»Weil ein Mann ermordet worden ist und ein anderer dafür sterben soll.«
»Was kümmert mich das?« fuhr sie mich an. Verbitterung verunstaltete, was noch von ihrer Schönheit übrig war. »Was hatte mein Mann verbrochen, als er an Fieber starb? Was hat er getan, daß er den Tod verdient? Das wissen nicht einmal die Götter. Denen ist es egal. Menschen sterben jeden Tag.«
»Dieser Tote ist im September direkt unter deinem Fenster erstochen worden. Ich glaube, du hast gesehen, wie es passiert ist.«
»Nein, und wie sollte ich mich auch an so etwas erinnern?« Die Frau und ihr Kind schienen bei ihrem Kampf in der Ecke einen seltsamen, zuckenden Tanz aufzuführen. Polias Atem ging mühsamer. Der Junge nahm seinen Blick die ganze Zeit nicht von mir.
»So etwas würdest du bestimmt nicht vergessen. Man kann sogar den Blutfleck noch erkennen, wenn man aus dem Fenster sieht. Das muß ich dir ja nicht sagen, oder?«
Plötzlich riß sich der Junge los. Ich zuckte zurück. Tiro trat vor mich, um mich abzuschirmen, aber das war gar nicht notwendig. Der Junge brach in Tränen aus und rannte aus dem Zimmer.
»Da, siehst du, was du angerichtet hast? Du hast mich dazu gebracht, seinen Vater zu erwähnen. Bloß weil Eco nicht sprechen kann, vergessen die Leute immer, daß er genausogut hört wie irgend jemand sonst. Es gab eine Zeit, da konnte er auch noch sprechen. Aber seit dem Tod seines Vaters hat er kein Wort mehr gesagt. Das Fieber hat sie beide erwischt. Und jetzt raus. Sonst hab ich euch nichts zu sagen. Verschwindet!«
Sie fuchtelte mit dem Messer herum, während sie sprach, und schien dann plötzlich zu bemerken, was sie in der Hand hatte. Sie hielt es ungelenk und mit zitternden Fingern auf uns gerichtet, und es sah so aus, als würde sie sich eher selbst verletzen als auf jemand einzustechen.
»Komm, Tiro«, sagte ich. »Für uns gibt es hier nichts weiter zu erfahren.«
Der kleine Wächter hatte seinen Weinschlauch wieder gefüllt und saß, den Wein schmatzend zwischen seine Lippen gießend, auf der oberen Treppenstufe. Er murmelte irgend etwas und streckte die Hand aus, als wir an ihm vorbeikamen. Ich schenkte ihm keine Beachtung. Der Wächter für das Erdgeschoß saß wieder da, wo wir ihn entdeckt hatten, auf dem Boden kauernd am Ende des Flures. Er schenkte uns keine Beachtung.
Auf der Straße war es unmenschlich heiß. Tiro stieg nur zögernd die letzten Stufen hinab. Er sah verdutzt aus.
»Was ist los?« fragte ich.
»Warum hast du ihr kein Geld angeboten? Wir wissen, daß sie Zeugin des Mordes war, der alte Mann hat es doch gesagt. Sie könnte das Silber bestimmt gut gebrauchen.«
»In meiner Börse ist nicht genug Geld, um sie zum Reden zu bringen. Hast du das nicht gesehen? Sie ist total verängstigt. Ich glaube ohnehin nicht, daß sie Geld angenommen hätte. Sie ist es nicht gewohnt, arm zu sein, zumindest nicht arm genug, um zu betteln. Noch nicht jedenfalls. Wer weiß, was für eine Geschichte sie zu erzählen hat?« Ich versuchte, möglichst hart zu klingen. »Und wen kümmert es schon? Was immer es sein mag, es gibt tausend andere Witwen in der Stadt, die die gleiche Geschichte erzählen könnten, und eine ist mitleiderregender als die andere. Für uns ist allein die Tatsache von Interesse, daß irgend jemand sie schon vor geraumer Zeit zum Schweigen gebracht hat. Sie nutzt uns nichts mehr.«
Ich hatte fast erwartet, daß Tiro mich zur Rede stellen würde, aber das war natürlich undenkbar. Er war ein Sklave, und ein sehr junger dazu, und hatte deshalb nicht bemerkt, wie völlig falsch ich die Frau behandelt hatte. Ich war mit ihr genauso rüde umgegangen wie mit dem Ladenbesitzer oder dem Wächter.
Vielleicht hätte sie geredet, wenn es mir gelungen wäre, in ihr eine andere Saite zum Klingen zu bringen als die der Angst. Ich ging mit hastigen Schritten voran, ohne den Blutfleck zu beachten, und zu wütend, um mich darum zu kümmern, wohin ich lief. Die Sonne knallte mir vom Himmel wie ein Faustschlag in den Nacken. Ich rannte geradewegs in den Jungen.
Wir machten beide einen erschreckten Satz zurück, atemlos von dem Zusammenstoß. Ich fluchte. Eco gab einen unterdrückten, rauhen, kehligen Laut von sich.
Ich war so geistesgegenwärtig, einen besorgten Blick auf seine Hände zu werfen. Sie waren leer. Ich sah ihm einen Moment in die Augen und trat dann zur Seite, um weiterzugehen. Er packte den Ärmel meiner Tunika, schüttelte den Kopf und zeigte auf das Fenster.
»Was willst du? Wir haben deine Mutter in Ruhe gelassen. Du solltest jetzt besser zu ihr gehen.«
Eco schüttelte den Kopf und stampfte mit dem Fuß auf. Er machte uns ein Zeichen zu warten und rannte nach drinnen.
»Was glaubst du, was er will?« fragte Tiro.
»Ich bin mir nicht sicher«, sagte ich, und noch während ich sprach, ahnte ich die Wahrheit und verspürte ein kitzelndes Gefühl der Angst.
Im nächsten Augenblick tauchte der Junge wieder auf mit einem schwarzen Umhang über dem Arm und einem Gegenstand, den er in einer Falte seiner Tunika verbarg. Er zog seine Hand hervor, und die lange Klinge glitzerte in der Sonne. Tiro stockte der Atem, und er packte meinen Arm. Ich hielt ihn sanft zurück, weil ich wußte, daß das Messer nicht für uns bestimmt war.
Der Junge kam langsam auf mich zu. Sonst war niemand auf der Straße; um diese Tageszeit war es zu heiß.
»Ich glaube, er möchte uns etwas mitteilen«, sagte ich.
Eco nickte.
»Über jenen Septemberabend.«
Er nickte erneut und wies mit der Klinge auf den Blutfleck.
»Über den Tod des alten Mannes auf der Straße. Der Mord passierte ein oder zwei Stunden nach Einbruch der Dunkelheit, hab ich recht?«
Er nickte.
»Und wie hätte man dann mehr als einen Schatten erkennen sollen?«
Er wies auf die Fackelnischen entlang der Straße und dann nach oben, während seine Hände eine Kugel in der Luft formten.
»Ah, ja, es war an den Iden - der Mond stand ziemlich hoch und voll am Himmel«, sagte ich. Er nickte.
»Wo sind die Mörder hergekommen?«
Eco wies auf die Sackgasse, die jetzt von der Tür des Lebensmittelladens versperrt war.
»Genau wie ich dachte. Und wie viele waren es?«
Er hielt drei Finger hoch.
»Nur drei? Bist du sicher?«
Er nickte heftig. Dann begann die Pantomime.
Er rannte ein Stück die Straße hinauf und stolzierte dann mit wichtigtuerischem Blick auf uns zu. Er machte schnörkelige Gesten in beide Richtungen.
»Der alte Sextus Roscius«, sagte ich. »Begleitet von seinen beiden Sklaven zur Rechten und zur Linken.«
Der Junge klatschte in die Hände und nickte. Er rannte zur Tür des Ladens, klemmte seine Schulter dahinter und stieß sie zu. Durch das Holz konnte ich die alte Frau hinter ihrem Tresen fluchen hören. Der Junge warf sich den dunklen Umhang über die Schulter und drängte sich, das lange Messer gezückt, gegen die Wand der Sackgasse. Ich folgte ihm.
»Drei Angreifer, sagst du. Und wer bist du jetzt, ihr Anführer?«
Er nickte und machte mir ein Zeichen, ich solle den Part des alten Sextus übernehmen, der die mondbeschienene Straße entlanggeschlendert kam.
»Los, Tiro«, sagte ich, »du bist Felix oder Chrestus oder wer immer zur Rechten seines Herrn stand, den Angreifern am nächsten.«
»Hältst du das für klug, Herr?«
»Sei still, Tiro, und spiel mit.«
Wir gingen nebeneinander durch die enge Straße. Aus der Sicht des Opfers lauerte die schmale Sackgasse ohne jede Warnung; selbst in einer Vollmondnacht mußte sie ein unsichtbares, schwarzes Loch gewesen sein. Als ich daran vorbeikam, hielt ich den Blick stur geradeaus gerichtet und nahm aus den Augenwinkeln nicht einmal das leiseste Zucken einer Bewegung wahr, und dann war es auch schon zu spät. Ohne jede Warnung war der stumme Junge auf einmal hinter uns, packte Tiro bei der Schulter und schob ihn zur Seite. Das tat er zweimal, einmal rechts und einmal links von mir; zwei Täter, die zwei Sklaven aus dem Weg schafften. Das zweite Mal schubste Tiro zurück.
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