»Führt mich vielleicht eine der anderen Straßen genauso bequem dorthin?«
»Nicht, wenn du nicht doppelt so lange wie nötig laufen willst. Nein, diese Straße ist der einzig praktische Weg. Es ist ein einzelner Häuserblock, von dem nur ein paar Sackgassen abgehen. Und der Spaziergang lohnt sich bestimmt«, fügte er augenzwinkernd hinzu.
»Das will ich hoffen. Komm, Tiro.« Wir wandten uns der engen Straße zu. Man konnte sie nur ein kleines Stück einsehen. Die Gebäude zu beiden Seiten waren hoch. Selbst im hellen Morgenlicht schienen sich die Wände um uns zu schließen, feucht und modrig, eine düstere Seite aus Backstein und Mörtel.
Die Gebäude, die die Straße säumten, waren hauptsächlich langgezogene Mietshäuser, von denen die meisten nur eine Tür und keine Fenster im Erdgeschoß hatten, so daß wir lange an nackten Wänden entlangliefen. Alle fünfzig Schritte waren Nischen in die Mauer eingelassen, in denen noch immer die Überreste der Fackeln der letzten Nacht glommen. Unter jeder Fackel war eine kleine Steinplatte angebracht, auf der die groben Umrisse eines Schwans eingraviert waren, die primitive Arbeit eines billigen Kunsthandwerkers. Die Kacheln waren Reklametafeln. Die Fackeln sollten die nächtliche Klientel zum Haus der Schwäne geleiten.
»Wir müssen bald da sein«, sagte Tiro und blickte von dem Wachstäfelchen auf. »Wir haben bereits eine nach links abgehende Straße passiert und kommen jetzt zu einer weiteren nach rechts. Laut Rufus’ Wegbeschreibung hat Sextus Roscius mitten auf der Straße einen großen Blutfleck gefunden. Aber nach der langen Zeit kann man wohl nicht davon ausgehen, daß er noch immer -«
Tiro kam nicht mehr dazu, die Frage zu beenden. Statt dessen brach seine Stimme beim letzten Wort, als er nach unten blickte und abrupt stehenblieb. »Hier«, flüsterte er und schluckte vernehmlich.
Der Körper eines Menschen enthält viel Blut. Auch sind die Pflastersteine porös und die Abflüsse der meisten römischen Straßen nicht der Rede wert, vor allem in den niedrig gelegenen Vierteln. Zudem hatte es in jenem Winter nur wenig geregnet. Trotzdem mußte der alte Sextus Roscius eine ganze Zeitlang stark blutend mitten auf der Straße gelegen haben, um einen derart großen und unauslöschlichen Fleck zu hinterlassen.
Der Fleck war fast völlig rund, und sein Durchmesser entsprach der Armlänge eines großen Mannes. Zu den Rändern hin war er ausgebleicht und verwischt und ging unmerklich in den allgemeinen Schmutz über. Aber zur Mitte hin war er noch immer recht ausgeprägt, ein sehr dunkles, fast schwarzes Rot. Die täglich vorüberlaufenden Füße hatten die Oberfläche der Steine wieder zu ihrer üblichen öligen Glätte abgeschliffen, aber als ich mich niederkniete, um einen genaueren Blick auf die Stelle zu werfen, konnte ich in den Spalten noch immer winzige, vertrocknete Partikel geronnenen Blutes entdecken.
Ich blickte nach oben. Selbst von der Mitte der Straße war es nur aus einem extrem schrägen Winkel möglich, eines der Fenster im ersten Stock zu sehen. Umgekehrt hätte man sich weit über den Sims lehnen müssen, um aus den Fenstern auf die Straße zu blicken.
Die nächste Tür war wenige Meter die Straße hinauf, der Eingang zu dem langgezogenen Mietshaus zu unserer Linken. Die Mauer auf der rechten Seite war genauso nichtssagend mit Ausnahme eines kleinen Lebensmittelladens an der Ecke, wo die Straße sich mit einer schmalen Sackgasse kreuzte. Der Laden war noch nicht offen. Die gesamte Vorderseite bestand aus einer durchgehenden, sehr hohen und sehr breiten blaßgelb getünchten Holztür, die oben mit verschiedenen Hieroglyphen für Getreide, Gemüse und Gewürze verziert war. Viel weiter unten in einer Ecke der Tür entdeckte ich eine weitere Markierung, die meinen Atem stocken ließ.
»Sieh dir das an, Tiro!« Ich eilte zurück und hockte mich neben die Tür. Von Hüfthöhe abwärts war das Holz mit einem Schmutz- und Staubfilm überzogen, der zum Boden hin in eine immer dicker werdende Dreckschicht überging. Trotzdem konnte man den Handabdruck in Kniehöhe noch recht deutlich erkennen. Ich legte meine Hand darauf und verspürte ein eigenartiges Schaudern, als mir ohne jeden Zweifel klar wurde, daß ich einen blutigen Handabdruck berührte, den Sextus Roscius vor Monaten hier hinterlassen hatte.
Tiro blickte erst auf den Handabdruck, dann auf den Fleck auf der Straße. »Sie sind recht weit voneinander entfernt«, flüsterte er.
»Ja. Aber dieser Fleck war zuerst da.« Ich stand auf und ging an der Tür vorbei bis zur Ecke. Die kleine, enge Abzweigung war überhaupt keine Straße oder, wenn sie es je gewesen war, zumindest jetzt mit einer soliden, zwei Stockwerke hohen Mauer zugemauert. Der Zwischenraum bis zur Ecke war vielleicht sieben oder acht Meter lang und keine zwei Meter breit. Am Ende hatte jemand Müll verbrannt; Abfall- und Knochenreste ragten aus einem hüfthohen Haufen weißer und grauer Asche. Hier hinaus lagen keine Fenster, weder von den Mauern zur Linken und Rechten noch von dem Mietshaus gegenüber. Die nächste Fackel war mindestens vierzig Schritte entfernt aufgestellt. In der Nacht würde die kleine Sackgasse völlig im Dunkeln liegen und erst dann eingesehen werden können, wenn man sie direkt passierte -ein perfekter Ort für einen Hinterhalt.
»Hier haben sie gewartet, Tiro, genau an dieser Stelle, in dieser Einbuchtung, weil sie wußten, daß er auf dem Weg zu dieser Elena, die ihn benachrichtigt hatte, hier vorbeikommen würde. Wahrscheinlich haben sie gewußt, wie er aussah, gut genug, um ihn im Licht der Fackeln seiner Sklaven zu erkennen. Sie haben keinen Moment gezögert, sich an dieser Ecke auf ihn zu stürzen und auf ihn einzustechen.«
Ich ging langsam zu dem Handabdruck. »Die erste Verletzung muß eine Brust- oder Bauchwunde gewesen sein - ich vermute, sie haben ihm direkt ins Gesicht geblickt, um sicherzugehen -, denn er konnte sie mühelos mit der Hand berühren, hineinpacken, sich die ganze Hand mit Blut beschmieren. Irgendwie riß er sich los. Vielleicht hat er geglaubt, diese Tür aufstoßen zu können, aber er muß auf die Knie gefallen sein - du siehst ja, wie niedrig der Abdruck ist.« Ich warf einen Blick auf die Straße hoch. »Aber das eigentliche Gemetzel hat dort, mitten auf der Straße stattgefunden. Irgendwie hat er sich noch einmal auf die Füße gerappelt und ist bis dorthin getaumelt, bevor sie ihn zu Boden streckten.«
»Vielleicht haben die Sklaven versucht, die Angreifer abzuwehren«, sagte Tiro.
»Vielleicht«, sagte ich, obwohl ich mir gut vorstellen konnte, daß sie beim ersten Blitzen von Stahl in blinder Panik davongestoben waren.
Ich bückte mich erneut, um den Handabdruck zu untersuchen. Plötzlich begann die hohe und breite Tür zu zittern, sprang auf und traf mich voll auf die Nase.
»Hey, was ist denn das?« vernahm ich eine Stimme von drinnen. »Schon wieder ein Strolch, der vor meinem Laden schläft? Ich laß dich verprügeln. Los, verschwinde, laß mich die Tür aufmachen!«
Die Tür rumpelte erneut. Ich blockierte sie mit dem Fuß, bis ich aufgestanden und zur Seite getreten war.
Ein knorriges Gesicht lugte dahinter hervor. »Verschwinde, hab ich gesagt!« knurrte der Mann. Die Tür schwang in den Angeln zitternd in weitem Bogen auf und schlug gegen die Mauer auf der anderen Seite der Sackgasse, so daß der kleine Gang, in dem die Mörder sich versteckt hatten, völlig versperrt war.
»Oh, doch kein Strolch«, murmelte der alte Mann und musterte mich von oben bis unten. Ich rieb mir noch immer die Nase. »Ich bitte um Verzeihung.« Seiner Stimme war keine Andeutung von Freundlichkeit oder Bedauern anzuhören.
»Ist das dein Laden?«
»Sicher ist das mein Laden. Seit mein Vater gestorben ist, und das war wahrscheinlich lange vor deiner Geburt. Davor hat er seinem Vater gehört.« Er blinzelte in die Sonne und schüttelte wie angeekelt ob so viel Helligkeit den Kopf, bevor er zurück in den Laden schlurfte.
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