Endlich hatte er offen erklärt, was er wollte, so dass Mondino eine ungefähre Vorstellung davon bekam, wie die Verhandlungen weitergehen würden und was Uberto von ihm wollte: Die Kirche hatte die Möglichkeit erkannt, diesen mysteriösen Mord als Beweis im Prozess gegen die Templer zu benutzen. Mondino dafür zu verurteilen, war nicht von Vorteil, weil dadurch die öffentliche Aufmerksamkeit von denen abgelenkt würde, die die Inquisition als die wahren Schuldigen hinstellen wollte, selbst wenn die beiden ermordeten Templer die Opfer waren und nicht die Täter. Daher bot der Inquisitor ihm Straffreiheit an im Austausch gegen seine Zeugenaussage. Mondino saß in der Falle, und er hatte keine Wahl. Alles in ihm wollte laut zustimmen, doch aus seinem Mund kam das genaue Gegenteil.
»Nein.«
Daraufhin schlug Uberto seine kleine Faust mit solcher Gewalt auf den Tisch, dass das Tintenfass umkippte und die Tinte über die gewachste Holzplatte floss. Gedankenverloren nahm der Inquisitor ein Blatt feinstes Pergamentpapier und drückte es auf den Fleck; dabei ließ er Mondino nicht einen Moment lang aus den Augen.
»Versucht nicht, dieses Zimmer zu verlassen, Ihr würdet hinter der Tür festgenommen werden«, sagte er und streckte die freie Hand nach einem Silberglöckchen aus. »Bald werden die Wachen da sein und sich Eurer annehmen.«
»Einen Augenblick noch«, sagte Mondino und hob beide Hände in einer demütigen Geste, die ihn einen schrecklichen Kampf mit sich selbst kostete. »Können wir nicht noch einmal darüber reden?«
»Es gibt nichts weiter zu sagen«, erwiderte Uberto, knüllte das Pergament zusammen und warf es auf den Fußboden. »Es gibt nur Ja oder Nein.«
»Was Ihr da von mir verlangt, ist schwierig«, sagte Mondino. »Vielleicht könnte ich es tun, aber ich brauche ein paar Tage Bedenkzeit.«
Er hatte dies gesagt, um Zeit zu gewinnen und die Ankunft der Wachen hinauszuzögern, aber gleichzeitig wurde ihm klar, dass diese Worte der Wahrheit entsprachen. In wenigen Augenblicken drohte sich sein gesamtes Leben zu verändern; er stand an einem Scheideweg, und aus verschiedenen Gründen behagte ihm keine der Möglichkeiten, die vor ihm lagen. Er war verwirrt und hatte das Bedürfnis, allein zu sein und in Ruhe über alles nachzudenken.
Uberto da Rimini verzog die Lippen zu einem schmalen Lächeln. »Jetzt seid Ihr nicht mehr so hochmütig, Magister«, sagte er. »Die Aussicht darauf, im Gefängnis zu enden, ist oft sehr wirksam. Gut, ich gewähre Euch zwei Tage Bedenkzeit. Wenn Ihr Euch aber bei Sonnenuntergang am Sonntag nicht zu einer Aussage entschlossen habt, werdet Ihr verhaftet. Ich vertraue darauf, dass Ihr nicht flieht. Falls Ihr das versucht, werde ich die Anklage gegen Euch öffentlich machen. Ihr würdet verfolgt werden, egal, wohin Ihr Euch wendet, und könntet nicht mehr an Eurer geliebten Universität unterrichten.«
Mondino nickte wortlos. Der Inquisitor läutete das Silberglöckchen, woraufhin in der Tür zwei äußerst kräftige Mönche erschienen.
»Geleitet diesen Mann hinaus«, sagte Uberto. »Im Augenblick ist er noch frei.«
Mondino verneigte sich leicht und ging dann zur Tür. Noch bevor er die Schwelle erreichte, rief ihn der Inquisitor zurück.
»Da ist noch etwas. Im Prozess müsst Ihr nicht nur die besprochene Aussage machen, sondern auch enthüllen, wo sich derjenige befindet, der Euch die Leiche gebracht hat.«
Mondino drehte sich um, um zu antworten, aber Uberto gebot ihm mit einer Handbewegung Einhalt. »Überlegt es Euch gut, bevor Ihr in diesem Punkt lügt. Ich weiß, dass der Mann zu Euren Studenten gehört, und ich denke, dass er ein Tempelritter ist, der sich als Euer Schüler ausgibt. Ich bin mir sicher, dass er diese Männer auf so schändliche Weise getötet hat.«
»Das glaube ich keineswegs«, gab Mondino entschieden zurück. »Er ist ein junger Mann, der in etwas verwickelt wurde, das größer ist als er selbst.«
»Wenn er es nicht war, dann müsst Ihr es gewesen sein«, sagte der Inquisitor rätselhaft. »Es muss einen Schuldigen geben. Und Ihr entscheidet, wer das sein soll.«
Sobald Mondino das Zimmer verlassen hatte, ließ Uberto Guido Arlotti rufen. Der ehemalige Priester wartete in einem Nebenzimmer und kam sofort zu ihm.
»Von nun an musst du Mondino wie ein Schatten folgen«, befahl ihm der Inquisitor. »Ich möchte wissen, wohin er geht, was er tut, mit wem er sich trifft. Und vor allem muss ich erfahren, wo sich dieser angebliche Student versteckt, der in dem Haus wohnte, in dem der Brand ausgebrochen ist. Er nannte sich Francesco Salimbene, aber das ist nicht sein richtiger Name. Nun wird er einen anderen angenommen haben. Mondino sucht ihn gewiss auf, um ihn zu warnen.«
»Wie Ihr wünscht, Vater«, antwortete Guido. »Aber befürchtet Ihr nicht, dass Mondino ebenfalls flüchtet?«
»Nein, sein Leben ist hier, er wird nicht fliehen. Er nützt uns, solange er frei ist, und das weiß er.«
Guido Arlotti nickte. »Ich mache mich sofort an die Arbeit.”
Er verließ umgehend das Zimmer.
Gerardo drehte dem Bettler den Rücken zu, dem sie die Kleider geraubt hatten, und bewegte sich langsam zu der gegenüberliegenden Seite des unterirdischen Gewölbes. Hugues de Narbonne folgte ihm. Der Mann konnte ihn nicht erkannt haben, denn sie hatten ihn von hinten angegriffen, doch sie durften das Risiko, dass er sie entdeckte, nicht unterschätzen. Falls sie den Mann aus Ferrara nicht auf dieser Seite des Raumes fanden, wäre es besser für sie, den Raum zu verlassen, ohne noch einmal an dem Bettler vorüberzugehen, der halbnackt mit lauten Worten sein Schicksal beklagte, ohne die Silbermünze zu erwähnen, die Gerardo ihm als Entschädigung für Beutel und Gewand in die Hand gelegt hatte.
Die beiden bewegten sich langsam vorwärts und achteten darauf, nicht auf die Habseligkeiten zu treten, die überall auf dem Boden verstreut lagen. Allmählich füllte sich das Gewölbe immer weiter mit Männern und Frauen. Zum Glück schienen viele sich untereinander nicht zu kennen, so dass die Anwesenheit der beiden verkleideten Templer nicht auffiel. Gerardo fragte jeden, an dem er vorbeikam, wo er den Mann aus Ferrara finden könnte, doch ohne Erfolg. Einige kannten ihn nicht einmal, andere erzählten ihm, dass er in letzter Zeit immer hier unten geblieben war, aber wo er jetzt war, konnten sie ihm nicht sagen. Mittlerweile hatten Gerardo und Hugues schon den höchsten Punkt auf den Treppen erreicht, wo zwei Männer und eine Frau unreife Äpfel in einem Tontopf kochten. Als Gerardo sie nach dem Krüppel fragte, beäugte ihn die Frau misstrauisch. Sie war ungefähr zwanzig Jahre alt und hätte schön sein können, wäre sie nicht so überaus mager gewesen und hätten ihr nicht zwei Schneidezähne und ein Eckzahn gefehlt.
»Warum sucht ihr ihn?«, fragte sie.
Gerardo erzählte die Geschichte, die sie sich ausgedacht hatten: Sie seien von Ravenna vertrieben worden, gab er an, und auf dem Weg hierher hätte ihnen ein anderer Bettler empfohlen, nach ihrer Ankunft in Bologna einen Krüppel aufzusuchen, der der Ferrareser genannt wurde. Er wäre ein guter Mensch und würde ihnen dabei helfen, sich in der Stadt zurechtzufinden.
»Der Ferrareser soll ein guter Mensch sein?«, lachte der ältere der beiden Männer, ein rundlicher Typ mit grauen Locken. »War der, der euch das gesagt hat, vielleicht blind und taub?«
Die anderen beiden lachten dreckig, und als die Frau sich etwas ungeschickt bewegte, entblößte sie ihre Beine weit oberhalb der Knie. Gerardo schaute zur Seite.
»Hier gibt es keine guten Menschen«, sagte der Ältere. »Nur Hurensöhne, die zu jeder Schandtat bereit sind, wenn sie dafür einen Tag länger leben können.«
»In Ravenna war es genauso«, erwiderte Gerardo und setzte sich neben sie, dabei versuchte er den Dialekt nachzuahmen, den die Dienerschaft bei ihm zu Hause gesprochen hatte. »Wie auch immer, ich möchte den Mann aus Ferrara finden.«
Читать дальше