»Und jetzt«, rief der Bruder, »will ich den Schlüssel zu Sir Ralphs Kammer!«
Athelstan nahm einen Schlüssel vom Haken und lief die Treppe hinauf; auf halber Höhe blieb er stehen, schüttelte den Kopf und kam wieder herunter.
»Andererseits«, sagte er, »wollen wir doch lieber Master Colebrooke kommen lassen.« Er gab dem Soldaten den Schlüssel zurück. »Sag mir«, forderte er ihn dann auf, »habe ich länger gebraucht als der junge Geoffrey?«
»Nein, ungefähr genauso lange. Er war ’n bißchen länger oben im Gang. Aber nicht viel.«
Sir Fulke drängte sich nach vom. »Was hat das alles zu bedeuten?« fragte er.
Athelstan lächelte. »Das werde ich Euch gleich zeigen. Master Lieutenant, schließt die Tür oben an der Treppe auf.«
Der Lieutenant ging die Treppe hinauf, schloß die Tür wieder auf, und alle folgten ihm in den kalten Gewölbegang. Colebrooke schloß Whittons Kammer auf, und nacheinander traten alle ein. Sir Fulke fluchte. Philippa stieß einen kurzen Schrei aus. In der Kammer war es eiskalt. Die Fensterläden standen weit offen, und das Federbett auf der schmutziggrauen Matratze des vierpfostigen Bettes war aufgeschlitzt worden. Gänsefedern quollen hervor - eine grausige Erinnerung an den Mord an Sir Ralph. »Wer war das? Was ist das für ein übler Unsinn?« fragte Kaplan Hammond.
Athelstan kümmerte sich nicht um ihn und stellte sich vor Parchmeiner.
»Ihr wißt, was ich getan habe«, sagte er ruhig. »Genau das, was Ihr an jenem Morgen tatet, als Ihr Sir Ralph ermordet habt. Und ich sage Euch, wie es sich abgespielt hat. Erstens: Als Sir Ralph in die Nordbastion zog, spieltet Ihr die Rolle des unterwürfigen Schwiegersohnes. Ihr halft ihm, ein paar Dinge hinüberzuschaffen. Die Kammer war ja erst bewacht, als Sir Ralph eingezogen war, nicht vorher; deshalb öltet Ihr sorgfältig Angeln und Türschloß, was die Ölflecke draußen im Gang erklärt. Zweitens: Das Stockwerk darüber ist abgeriegelt; das Ende des Korridors ist durch eingestürztes Mauerwerk versperrt. In diesem Geröll habt Ihr einen Dolch versteckt, wie es Colebrooke jetzt auf meine Bitte mit Sir Johns Dolch getan hat. Ich habe das Federbett aufgeschlitzt und den Dolch wieder dort versteckt. Am Abend vor Sir Ralphs Tod habt Ihr mit ihm gegessen und habt dafür gesorgt, daß er viel trank. Wahrscheinlich habt Ihr noch ein ziemlich starkes Schlafmittel hinzugegeben, um ihn benommen zu machen. Drittens: Ihr habt Sir Ralph bis zur Treppe gebracht, die Wachen halfen ihm zu seiner Kammer hinauf, und wahrscheinlich habt Ihr bei dieser Gelegenheit den Schlüssel vertauscht: Ihr habt den weggenommen, den Sir Ralph für die Wache dagelassen hatte, und einen anderen an den Haken gehängt. Als wir vorhin in Philippas Gemach waren, hat er mir den richtigen Schlüssel zugesteckt.« Athelstan machte eine Pause. »Am nächsten Morgen kommt Ihr herüber, die Wachen durchsuchen Euch, aber Ihr habt nichts bei Euch als Eure eigenen harmlosen Habseligkeiten, zu denen« - Athelstan griff dem jungen Mann vorsichtig an die Seite - »wie bei jedem Kaufmann ein Schlüsselbund gehört. Ihr geht die Treppe hinauf, die Wache macht Euch auf, und Ihr geht durch den Gang zu Sir Ralphs Kammer. Während Ihr klopft und brüllt, schließt Ihr lautlos die Tür auf; schließlich sind Schloß und Türangeln so gut geölt. Der Rest ist einfach.«
»Aber …« Colebrooke wollte etwas sagen.
»Noch nicht«, unterbrach Athelstan ihn und betrachtete Parchmeiner aufmerksam. »Drinnen handelt Ihr blitzschnell. Die Fensterläden geöffnet, die kalte Luft hereingelassen. Dann hinüber zu Whittons Bett, den Kopf zurückgerissen. Sir Ralph, immer noch schwer benommen, schlägt vielleicht für einen Moment die Augen auf, als Ihr ihm die Gurgel durchschneidet. Ihr wischt das Messer am Bettzeug ab, schließt wieder ab, schiebt die Waffe in den Schutt und hämmert an die Tür zum Gang.« Athelstan sah leise Belustigung in Parchmeiners Blick; das Gesicht des jungen Mannes blieb kalt und unbewegt.
»Jetzt«, fuhr Athelstan fort, »macht Ihr den Schlüssel zu Sir Ralphs Kammer von Eurem Ring los. Ihr geht nach unten, laßt Euch den falschen Schlüssel geben, steigt die Treppe hinauf und vertauscht die beiden Schlüssel, während Ihr den Soldaten den Rücken zukehrt. Dann gebt Ihr den Wachen den richtigen Schlüssel zurück; ich habe eben bewiesen, daß zwei Schlüssel sehr ähnlich aussehen können. Und dann macht Ihr Euch auf die Suche nach Colebrooke.«
»O nein!« Philippa sank bleich und bestürzt gegen Sir Fulke, ohne Geoffrey aus den Augen zu lassen. »Oh, bitte, lieber Gott, nein!«
»Ja, so ist es gewesen«, verkündete Cranston obenhin. »Mein Schreiber hat es bewiesen. Die beiden Wachen haben nur gesehen und gehört, was sie sollten.«
»Bruder Athelstan?«
»Ja, Sir Fulke?«
»Der Leichnam meines Bruders war kalt, als Colebrooke kam.«
»Ja, selbstverständlich«, erwiderte Cranston bissig. »Kohlebecken und Kaminfeuer waren erloschen; das läßt vermuten, daß Whitton von Drogen berauscht war. Der Mörder stieß die Fensterläden auf, und die eiskalte Luft strömte herein. Bedenkt, es war ein frostiger Morgen. Daß Master Parchmeiner nicht gleich nach Colebrooke schickte, dürfte mit dazu beigetragen haben.«
Aus dem Augenwinkel sah Athelstan plötzlich eine schnelle Bewegung. »Sir John! Rastani!«
Trotz seiner Körpermassen bewegte der Coroner sich flink. Er packte den Stummen, der sich gerade auf den Mörder seines Herrn stürzen wollte, am Wams und hob ihn hoch wie ein kleines Kind.
»Ihr, Sir«, sagte er leise, »werdet auf Eurem Platz bleiben, bis diese Angelegenheit erledigt ist.« Er schüttelte Rastani wie eine Lumpenpuppe. »Habt Ihr verstanden?«
Der Stumme warf Parchmeiner einen haßerfüllten Blick zu. »Ob Ihr verstanden habt?« Cranstons Griff wurde härter.
Der Stumme klappte den Mund auf und zu und nickte dann. Cranston ließ ihn sanft zu Boden gleiten, und zwei von Colebrookes Soldaten postierten sich rechts und links von dem Mauren.
»Bewacht ihn gut!« befahl Cranston knapp. »Zieht eure Schwerter!«
Während dieses Auftritts hatte Parchmeiner nicht mit der Wimper gezuckt, sondern den Ordensbruder mit kühlem Blick betrachtet; dieser wußte, daß er einem Mann gegenüberstand, für den Mord etwas Natürliches war und der die Gelegenheit genutzt hatte, furchtbare Rache zu üben.
»Master Colebrooke!« rief Athelstan, ohne den Mörder aus den Augen zu lassen. »Ich möchte, daß man Master Parchmeiner die Hände fesselt und ein Seil um den Leib bindet.«
Colebrooke erteilte Befehle; einer der Soldaten drehte Parchmeiner die Arme auf den Rücken und fesselte Handgelenke und Daumen aneinander. Ein anderer Soldat löste seinen Gürtel, schob das eine Ende durch Parchmeiners Gürtel und schnallte das andere fest an die Ledermanschette an seinem Handgelenk. Athelstan entspannte sich und schaute sich in der kalten Todeskammer um.
»Wir müssen nicht hierbleiben«, erklärte er. »Wir können in Mistress Philippas Gemach zurückkehren.«
Das junge Mädchen sprach kaum ein Wort und stöhnte leise, als ihr Onkel sie in die Arme nahm. Die Gruppe verließ die Nordbastion. Auf dem Tower Green befahl Colebrooke, dem die Gefahr bewußt geworden war, einem Wachoffizier, die Trommel zu schlagen und die Garnison zu den Waffen zu rufen. Befehle erschallten, Tore schlossen sich, und während sie die Treppe zu Philippas Gemach hinaufgingen, hörte Athelstan, wie Soldaten und Bogenschützen unten in Stellung gingen. Er drehte sich um und lächelte Cranston an.
»Ich muß mich entschuldigen. Euer Dolch liegt noch in dem Schutthaufen in der Nordbastion.«
»Keine Sorge«, knurrte Cranston. »Was ich gesehen habe, ist mehr wert als tausend Dolche.«
Oben angekommen, blieb Parchmeiner zwischen den beiden Wachen stehen. Athelstan sah ihn neugierig an, denn der junge Mann lächelte wie über einen geheimen Scherz. Die anderen waren ein stilles, gebanntes Publikum. Rastani hockte mürrisch und verschlossen zwischen zwei vierschrötigen Wachen auf einem Schemel. Philippa seufzte leise; sie war ganz in ihren Schmerz versunken. Ihr Onkel und der Kaplan standen ihr zur Seite. Cranston goß sich einen Becher Wein ein. Athelstan ging zum Kamin und wärmte sich die Hände am Feuer.
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