»Vielleicht war es am besten so. Noch nie habe ich ein so unglückliches Tier gesehen.« Er dachte an die Lehren einiger Franziskanerbrüder, die wie ihr Ordensgründer überzeugt waren, daß alle Tiere Gottes Geschöpfe seien und deshalb niemals schlecht behandelt oder gefangengehalten werden dürften.
Athelstan kam an der stillen, dunklen Kapelle von St. Thomas von Canterbury vorbei, die in der Mitte der Brücke stand. Die Wachposten am Ufer von Southwark riefen ihm zu; einige hielten ihn sogar für einen Geist. Athelstan rief seinen Namen; man ließ ihn durch und neckte ihn wegen seines unverhofften Erscheinens.
Der Ordensbruder führte Philomel durch die dunklen Gassen von Southwark. Hier fühlte er sich sicherer. Man kannte ihn, und niemand würde wagen, ihn zu überfallen. Er kam an einer Schenke vorbei, wo ein Junge, der sich ein paar Brotkrusten verdienen wollte, im Eingang stand und mit wunderschöner Stimme ein Weihnachtslied sang. Athelstan lauschte den Worten, die Wärme und Fröhlichkeit verhießen. Er tätschelte Philomels Hals. »Wo werden wir das Weihnachtsfest verbringen, he, alter Freund?« fragte er und wanderte weiter. »Vielleicht lädt Lady Cranston mich ein, jetzt, wo ihre Verwandten aus dem West Country nicht kommen.«
Unvermittelt blieb er stehen. »Lady Maudes Verwandte!« murmelte er auf der stillen, ruhigen Straße, und ein Schauder lief ihm über den Rücken. »Seltsam«, fuhr er fort. »Eine solche Kleinigkeit, bloß ein Schaum auf den Ereignissen des Tages…« Er rieb sich das Gesicht. Lady Maudes Worte hatten die Erinnerung an etwas anderes geweckt.
Fast zerrte er nun Philomel nach St. Erconwald zurück und hatte es so eilig, daß das Pferd ihn erbost anwieherte. Athelstan brachte das alte Streitroß in seinen Stall, schaute nach der Kirche und erinnerte sich schuldbewußt an den Zorn, den er heute an den Tag gelegt hatte. Bonaventura war anscheinend auf Freiersfüßen unterwegs. Athelstan ging in sein Haus, zündete ein Feuer an und aß hastig ein Stück kaltes Fleisch. Nach wenigen Bissen warf er den Rest ins Feuer; das Schweinefleisch war faulig. Er goß sich einen Becher verdünnten Wein ein, räumte den Tisch ab und machte sich daran, alles aufzulisten, was er über die Morde im Tower wußte.
Der Gedanke, der vorhin seine Erinnerung in Gang gesetzt hatte, war möglicherweise der Schlüssel zur Lösung des ganzen Problems. Lächelnd dachte er an Pater Anselm und dessen oft wiederholtes Axiom in seinen Vorlesungen über die Logik. »Wo es ein Problem gibt, muß es auch eine Lösung geben. Man muß nur den Weg finden. Manchmal genügt das kleinste Lichtfünkchen.« Dann hatte Anselm ihn mit seinen schwarzen Äuglein angesehen. »Denke immer daran, mein junger Athelstan. Das gilt für das Reich der Metaphysik ebenso wie für die Ereignisse eines jeden Tages.«
Athelstan schloß die Augen. »Ich denke immer noch daran, Vater«, murmelte er. »Der Herr lasse dich ruhen in Frieden.« Er rückte sein Schreibtablett zurecht, ordnete seine Gedanken und tauchte die graue Gänsefeder in die Tinte. Fluchend stellte er fest, daß die Tinte zu kalt war; er hielt den Topf über die Kerze, um sie zu wärmen, und las noch einmal schnell durch, was er sich im Tower notiert hatte. Als die Tinte warm genug war, schrieb er sorgfältig auf, zu welchen Schlußfolgerungen er gekommen war.
Primo: Obwohl gut geschützt, war Sir Ralph Whitton im Turm der Nordbastion ermordet worden. Sir Ralph hatte hinter einer verschlossenen Tür geschlafen, für die er und die Wachen draußen einen Schlüssel gehabt hatten. Die Tür zu dem Gang, der zu der Schlafkammer führte, war ebenfalls verschlossen, und auch diese Schlüssel hatten nur er und seine vertrauten Leibwächter. Aber all diese Vorsichtsmaßnahmen hatten nichts genützt. Sein Mörder war anscheinend über den gefrorenen Festungsgraben gekommen, die Trittkerben in der Turmwand hinaufgeklettert, hatte den Fensterladen entriegelt und Sir Ralph getötet.
Secundo: Der Mörder mußte den Tower gut kennen, um von den Trittkerben in der Mauer zu wissen. Warum hatte das Geräusch der Fensterläden, die geöffnet wurden - vom Eindringen des Mörders in die Schlafkammer ganz zu schweigen -, Sir Ralph nicht geweckt? Eine Stiefelschnalle von Sir Fulke hatte auf dem Eis gelegen. War das ein Hinweis auf den möglichen Mörder?
Tertio: Der junge Parchmeiner hatte als erster versucht, Sir Ralph zu wecken, aber geöffnet hatte die Kammer der Lieutenant, Master Colebrooke. Spielte Sir Ralphs Stellvertreter eine Rolle bei diesem Mord?
Quarto: Mowbray war durch einen Sturz von der Mauer ums Leben gekommen, aber wie war er gefallen? Wer hatte die Sturmglocke geläutet? Wer war nicht in Mistress Philippas Gemach gewesen? Nur zwei: Fitzormonde und Colebrooke. Wieder schüttelte Athelstan den Kopf.
Quinto: Der Tod des Ratsherrn Horne. Athelstan zog eine Grimasse. Überhaupt keine Hinweise.
Sexto: Fitzormondes Tod. Er und Cranston hatten wohl gesehen, daß man die Kette des Bären besser hätte befestigen können, und Fitzormonde hatte die Gewohnheit gehabt, den Bären anzuschauen. Aber wer war der Mörder gewesen? Wer hatte den Bolzen abgeschossen und das Tier damit zu so mörderischer Wut angestachelt?
Septimo: Sir Ralph und andere waren wegen eines schrecklichen Verrats an Sir Bartholomew Burghgesh gestorben. War Burghgesh vor all den Jahren auf dem Schiff gestorben oder war er nach England zurückgekehrt? Der Pfarrer von Woodforde behauptete, ihn gesehen zu haben, und der Wirt des Gasthauses ebenfalls. War es dieselbe geheimnisvolle Person, die auch der Wirt in der Goldenen Mitra gesehen hatte? Wenn ja, dann war Burghgesh vor drei Jahren im Advent von mindestens drei Leuten gesehen worden; zur selben Zeit war Sir Ralph Whitton in einen Zustand tiefer Niedergeschlagenheit verfallen. Aber wenn Burghgesh überlebt hatte und nach England zurückgekehrt war, wo verbarg er sich jetzt? Und noch ein Problem: Sir Ralphs Bestürzung hatte sich anscheinend wieder gelegt. Das wäre sicher nicht geschehen, wenn Burghgesh noch lebte. Sir Ralph hätte nur dann Ruhe gefunden, wenn er vor drei Jahren aufgetaucht und dann gestorben wäre.
Octavo: Wer immer die unheimlichen Mitteilungen an Whitton und die anderen gesandt hatte, mußte Zugang zum Tower haben. Waren Burghgesh oder sein Sohn irgendwo in der Stadt versteckt und schickten ihre Botschaften und Komplizen in den Tower?
Nono: Wer profitierte von den Morden? Colebrooke? Der wollte befördert werden, kannte sich gut aus und war bei allen drei Todesfällen im Tower gewesen. Sir Fulke? Auch er hatte einen Gewinn vom Tod seines Bruders, und seine Stiefelschnalle hatte auf dem Eis vor der Nordbastion gelegen. Auch er kannte den Tower gut und war dort gewesen, als die beiden Hospitaliter den Tod gefunden hatten. Und Rastani? Ein verstohlener, feinnerviger Mann, der Sir Ralph und seinen Kameraden ebenfalls Rache geschworen haben mochte. Er kannte sich in der Festung aus und war dort gewesen, als die Hospitaliter gestorben waren. Athelstan schüttelte den Kopf. Das gleiche galt auch für Hammond, diesen recht düsteren Kaplan. Oder waren es Mistress Philippa und ihr Geliebter? Und was war mit Rothand, dem Verrückten, der vielleicht vernünftiger war, als er aussah? Athelstan hob den Kopf und schnappte nach Luft. Rothand! Der bucklige Albino hatte von zugemauerten Geheimverliesen geredet, und Simon, der Zimmermann, hatte etwas Ähnliches gemurmelt.
Athelstan stützte den Kopf auf beide Hände. Dann griff er nach seinem Federkiel und sah sich in der dunklen Küche um. In der Ecke stand ein Stechpalmenzweig. In ein paar Tagen war Weihnachten. Er stand auf, wärmte sich die Finger am Kohlebecken und wünschte, Benedicta wäre dagewesen, um einen Becher Glühwein mit ihm zu trinken. Er dachte an das, was Doktor Vincentius über seine Zuneigung zu der Witwe gesagt hatte, und starrte ins Feuer. War es so offensichtlich? Wußten auch andere in der Gemeinde um seine Gefühle? Er schüttelte den Kopf. Nein, jetzt mußte er sich auf ein anderes Problem konzentrieren.
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