Die Messe rief ihn, doch er wollte noch einen letzten Versuch machen. »Könntet Ihr mir den Ort seines Selbstmordes zeigen?«, fragte er die Witwe Leyendecker.
Sie lächelte ihn an, wirkte nun ganz sanft und stand auf. »Wenn Ihr es wünscht…«
Oben unter dem Dach, durch dessen Ziegelritzen der Wind pfiff, zeigte sie Andreas den Balken, an dem sich Ludwig erhängt hatte. »Ich habe hier nichts verändert; ich bin seitdem nicht mehr in diesem Raum gewesen«, sagte sie und deutete auf das abgeschnittene Seil und den Hocker, der darunter lag. Er war offenbar umgefallen, als Ludwig in der Schlinge gezappelt hatte.
Andreas betrachtete nachdenklich das im Luftzug baumelnde Seil, die am Boden liegende Schlinge und den kurzbeinigen Hocker. Dann schaute er hoch zum Dachbalken, um den das Seil geschlungen war.
Irgendetwas stimmte hier nicht.
Regen setzte ein und prasselte auf das Schieferdach; es war ein trommelndes, forderndes Geräusch.
Noch fordernder waren die Glockenschläge von Sankt Kolumba. Er kam zu spät zur Messe.
Beim fünften und letzten Schlag wusste er, was ihm das Gefühl großen Unbehagens verursachte.
Ludwig war klein gewesen; er hatte immer Mühe gehabt, bei den aufeinander gestapelten Fässern an das dritte zu reichen, doch der Abstand zwischen dem stehenden Hocker und der Schlinge des Seils musste sogar mehr als drei Fässer betragen haben.
Ludwig hätte, wenn er auf dem Hocker stand, gar nicht an die Schlinge herangereicht.
Also konnte sich Ludwig keinesfalls selbst umgebracht haben.
Gott hatte ihm in Gestalt des Pastors Hülshout eine Strafpredigt gehalten, als er zu spät zur Feier der Seelenmesse am Marienaltar kam, die eine ewige Stiftung der Witwe Hennecke war. Andreas war nicht bei der Sache gewesen, auch nicht, als er die Wandlung vollzog und Gott sich in Gestalt von Brot und Wein in seiner unmittelbaren Nähe befand. Er schaute hoch zu der neuen Empore und den beiden schon eingewölbten östlichen Jochen, dann warf er einen kurzen Blick hinter sich auf die Gerüste im Dämmerlicht einiger Kerzen und wurde sich angesichts dieser gewaltigen Baustelle seiner eigenen Unzulänglichkeit nur allzu deutlich bewusst. Die Kirche und er hatten so vieles gemeinsam: Beide waren sie im Werden begriffen, beide standen sie fest auf Gott gegründet, waren aber wesentlicher Wände und sichernder Begrenzungen beraubt und warteten mit banger Zuversicht auf eine bessere Zukunft.
Nach der Messe, zu der nur drei alte Mütterlein seines Sprengels gekommen waren, versuchte er eine Stunde lang vergeblich, dem Familiaris im Pfarrhaus die Anfangsgründe des Lateinischen beizubringen. Dann schlich er hinaus auf den Kirchhof und stand lange vor Ludwigs namenlosem Grab. Der Regen hatte sich verzogen, die Wolkendecke war aufgerissen und enthüllte den abnehmenden Mond, dessen blasser Glanz durch den frühen Abend schwebte. Die Apsis der Kirche ragte auf wie eine Drohung.
Da legte sich plötzlich eine Hand auf seinen Arm.
Andreas wirbelte herum und sah in die grünen, tiefen Augen Elisabeths.
»Grete hat mir den Weg zu Euch gewiesen«, sagte sie leise und schaute den traurigen Erdhügel an. »Wart Ihr bei seiner Witwe?«
Andreas nickte und berichtete ihr zunächst nur von dem Zauberbuch. Sie schüttelte den Kopf und sagte: »Natürlich hat diese verfluchte Frau es ihm untergeschoben, oder habt Ihr Anmerkungen von Ludwigs Hand darin bemerkt?«
Andreas schaute sie verblüfft an. An das Nächstliegende hatte er nicht gedacht. Seine Abscheu vor dem Büchlein war so groß gewesen, dass er es nicht eingehender untersucht hatte. »Vielleicht habt Ihr Recht. Es würde zu einer anderen Beobachtung passen, die ich unter dem Dach des Leyendecker-Hauses gemacht habe.« Nun berichtete er ihr auch von dem zu niedrigen Hocker.
Elisabeth nahm die Hand von seinem Arm und stieß einen Laut aus, in dem tiefe Verzweiflung und maßlose Wut mitschwangen. Andreas zuckte zusammen und rückte von ihr ab. In ihrem Gesicht flackerte eine Wildheit, die ihn entsetzte.
Gleichzeitig hätte er sie am liebsten in den Arm genommen.
»Er ist ermordet worden. Ich habe es gewusst! Und Barbara hat ihn auf dem Gewissen!« Sie sank vor dem Grab ihres Bruders nieder und grub die Finger in den vom Regen aufgeweichten Boden. Ihr Körper wurde von Schluchzern geschüttelt.
Andreas rang verzweifelt die Hände. Er kniete sich neben sie und wagte es.
Er nahm sie in den Arm.
Trotz ihrer Größe war sie so zart. Er umgriff sie mühelos. Als sie den Druck seiner Finger unter ihrem Busen spürte, rollte sie sich zur Seite und blieb einige Ellen von Andreas entfernt auf dem Bauch liegen. Rasch stand er wieder auf. Er war so verdutzt, dass er ihr nicht einmal die Hand bot, um ihr beim Aufstehen zu helfen.
Mühelos kam sie auf die Knie und drehte ihm den Kopf zu. In ihrem Blick lag nur noch Angst. Dann richtete sie sich auf. »Wir müssen diese Frau dem Richter übergeben«, sagte sie hastig und gepresst.
Der Abend stahl sich zwischen den Mauern des Friedhofs und der Kirche heran. Die Farben verblassten zu einem düsteren Grau, über dem hier und da Tücher aus fahlem Mondlicht lagen, die auch das Gras zu weißem Bildwerk machten.
Andreas versuchte, wieder einen klaren Kopf zu bekommen. Er hatte eine Frau berührt. Seine Absichten waren rein und lauter gewesen. Doch was er da gespürt hatte… Er begriff nichts. »Barbara Leyendecker…«, stotterte er, »… kann… hat…, es ist nichts bewiesen. Es gibt da auch noch eine andere Möglichkeit.«
Elisabeth sah ihn fragend an. Ihr Kleid war mit Erde beschmiert, und die Haube saß ihr schief auf dem Kopf. Sie schaute an Andreas vorbei, nach oben, und erstarrte. »Wir werden beobachtet«, flüsterte sie.
Andreas drehte sich um. Eine Gestalt verschwand hinter dem erleuchteten Fenster der Wohnstube im Erdgeschoss. Vielleicht war es der erfolglose Schüler, vielleicht auch Grete, die Hausmagd. »Kommt. Ich bringe Euch nach Hause. Es schickt sich nicht für eine junge Frau, allein durch die abendliche Stadt zu gehen.« Er bot ihr den Arm.
Sie scherte sich nicht darum, dass sie seinen Priesterrock mit Lehm beschmierte, und lächelte ihn zaghaft an. Er führte sie durch die Diele nach draußen. Niemand begegnete ihnen, doch Elisabeth achtete peinlich genau darauf, dass sie ihm nicht zu nahe kam.
Sie mussten sich beeilen. Die Nacht übergoss die Stadt rasch mit ihrer Schwärze, welche die schmale Mondsichel nur mit schwachen weißen Strichen zu durchbrechen vermochte, und die wenigen Kerzen vor den Heiligenbildern an den Häusern waren kaum mehr als blinde Spiegel der Finsternis. Andreas führte Elisabeth durch die Brückenstraße, die Obenmarspforten entlang, an der düsteren kleinen Michaelskapelle vorbei, die früher die Kapelle des Kölner Rates gewesen war und seit dem Neubau des Rathauses nicht mehr benutzt wurde. Schließlich kamen sie zum Alten Markt, der tagsüber vor Ständen mit Gemüse, Obst, Gewürzen, Drugwaren, Lederwaren, Geschirr und Kurzwaren überquoll, doch nun verlassen und still dalag.
Alle Kaufleute hatten noch vor der letzten Messe ihre Stände abgebaut, waren in die Kirchen geströmt und hatten sich danach auf den Heimweg begeben. Ein offensichtlich sehr reicher Kaufmann im kostbaren Wams und mit edlen Lederschuhen kam hinter einem Lichtträger über den Markt, obwohl es noch gar nicht so dunkel war, dass man unbedingt eine Laterne benötigt hätte.
Andreas sah den beiden nach, wie sie in Richtung Rathaus verschwanden, und meinte dann zu Elisabeth: »Wir sollten uns nicht zu sicher sein, dass die Witwe Eures Bruders etwas mit seinem Tod zu tun hat. Beim Gespräch mit ihr ist mir noch eine andere Idee gekommen.«
Elisabeth blieb stehen. Sie hielt sich so weit von ihm entfernt wie möglich, ohne ihn loslassen zu müssen, und sah ihn fragend an.
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