Es war zu spät. Außerdem war Krantz der Einzige, vor dem sie sich in Acht nehmen musste; alle anderen waren mögliche Opfer. Und sie schienen es endlich zu begreifen, nachdem Elisabeth wieder und wieder die wesentlichen Einzelheiten ihrer Geschichte erzählt hatte. Ein regelrechter Aufruhr setzte ein. Einige Ratsmitglieder bestürmten den Bürgermeister, andere flüchteten sofort aus dem Saal. Krantz hingegen blieb. Als ob er ebenfalls erkannt hätte, dass er sich verdächtig gemacht hatte, rief er in den Tumult hinein: »Wir sollten sofort nach dem Schwarzpulver suchen! Schnell!«
Einige der Ratsherren durchsuchten daraufhin den Saal, doch natürlich fanden sie nichts. Unter der Führung des Bürgermeisters machte sich schließlich eine Gruppe von fünf Männern auf den Weg durch das Gebäude. Rasch kam man auf den Gedanken, dass die größte Sprengkraft erzielt würde, wenn man die Ladung im Kellergewölbe unter dem Ratssaal anbrachte, denn dann würde vermutlich das gesamte Rathaus einstürzen. Außerdem konnte man dort unten am einfachsten ein so großes Fass verstecken und zünden. Also stürmten die Männer und Elisabeth nach unten. Sie achtete darauf, sich möglichst fern von Krantz zu halten. Sein trauriger, sanfter Blick hatte sie immer geblendet.
Mit Fackeln, die sie rasch aus den Halterungen an der Wand genommen und angesteckt hatten, liefen sie durch die Unterwelt des Rathauses. Es dauerte nicht lange, bis sie hinter der Biegung eines Ganges auf zwei Personen trafen, die sich gegenüberstanden. Reglos. Eine davon war Andreas. Was war mit ihm geschehen? Warum lief er nicht fort? Da stürzte sich der andere auf ihn. Mit einem Aufschrei eilte ihm Elisabeth zu Hilfe und fiel dem Angreifer in den Rücken. Der wirbelte herum und ließ die Laterne fallen, die er in der Linken gehalten hatte. Sie polterte zu Boden, erlosch aber nicht.
»Ihr?«, keuchte Elisabeth und hielt mitten in der Bewegung inne.
»Ja, ich«, flüsterte Ulrich Heynrici und packte Elisabeths Kleid, weil er sie abschütteln wollte. Da war plötzlich Krantz neben ihr und stieß Heynrici ein langes Messer in die Seite. Mit einem seltsamen, pfeifenden Geräusch ging der alte Mann zu Boden, hielt sich aber noch an Elisabeths Kleid fest. Es riss an den Bändern, mit dem es vor der Brust geschnürt war, der Länge nach auf. Elisabeth stieß einen spitzen Schrei aus. Die anderen Ratsmitglieder hatten aufgeschlossen. Andreas schien aus seiner Benommenheit erwacht zu sein. Er sah Elisabeth im Schein der Fackeln an. Sah ihre entblößte Brust. Sah es.
Andreas rieb sich die Augen. Nun wusste er, warum Elisabeth sich seiner Nähe immer entzogen hatte. Nun wusste er, warum Ludwig sie an Bonenberg verheiratet hatte. Nun wusste er, warum sie bei ihm geblieben war. Er wusste es in dem Moment, als er unter ihren schönen kleinen Brüsten die zwei weiteren Warzen und die winzigen Hügel sah. Er bemerkte, wie Heynrici ebenfalls auf Elisabeths entblößten Oberkörper starrte. »Hexe!«, röchelte er. »Hexe!«
Andreas musste schnell handeln. Er warf sich vor Elisabeth und versuchte linkisch, ihr Kleid über der Brust zusammenzuziehen. Niemand sonst hatte es bisher gesehen. Niemand durfte es je sehen, denn sonst wäre es um Elisabeth geschehen. Die beiden überzähligen kleinen Brüste und Warzen würden von jedermann als Hexenzeichen gedeutet werden.
Und wenn sie wirklich eine Hexe war?, schoss es Andreas durch den Kopf. Er stand ganz nah vor ihr, berührte mit den Händen ihre Brüste, die oberen, die unteren. Tausend heftige Empfindungen durchströmten ihn. Er zerrte ihr das Kleid über die Blöße. Sofort nestelte sie an den Bändern, doch sie waren zerrissen. Andreas zog den Priesterrock aus und legte ihn der jungen, vor Angst zitternden Frau um. Die Zeit schien gefroren zu sein. Niemand sonst bewegte sich. Wie durch Watte vernahm Andreas das Keuchen des am Boden liegenden Heynrici; ansonsten war es so still, dass er das Blut in seinen Ohren rauschen hörte. Als Elisabeth in das schwarze Gewand eingewickelt war, schenkte sie Andreas ein zaghaftes Lächeln. Als er es erwiderte, wurde ihr Lächeln strahlender. Und sogar ein wenig schelmisch. Andreas stand in Hemd und Lendentuch vor ihr. Er bemerkte es kaum. Krantz war immer noch hinter ihnen, das blutige Messer in der Hand. Andreas schaute hinunter zu Heynrici. »Warum?«, fragte er leise. »Warum?«
Der alte, für so fromm gehaltene Mann flüsterte: »Will beichten…«
»Bitte lasst uns allein«, sagte Andreas zu den Ratsherren. »Das hier ist nur noch eine Sache zwischen diesem Mann, Gott und mir. Und nehmt euren Büttel mit. Er ist nur ohnmächtig.«
Krantz ergriff die Gelegenheit als Erster. Er wischte das Messer an seinem Hemd ab, steckte es in den Gürtel und ging. Die anderen folgten ihm mit ihren Fackeln. Elisabeth sah dem hageren Ratsherrn mit dem verträumten Blick wütend und hilflos nach. »Dieser Schuft«, sagte sie.
Andreas wusste nicht, was sie meinte. Anderes war nun wichtiger. Er kniete sich neben Heynrici und brachte sein Ohr nahe an den Mund des Sterbenden. »Beichte, und deine Sünden werden dir vergeben«, sagte er mit leiernder Stimme. Und setzte hinzu: »Warum?«
»Ich… ich…« Heynrici bäumte sich auf und ließ sich mit einem Ächzen wieder zurückfallen. Unter seinem Körper breitete sich eine Blutlache aus. »Ich wollte das Rathaus und alle darin in die Luft sprengen.«
»Warum?«, fragte Andreas erneut.
»Sie haben mich darum gebeten.«
»Wer?«
»Die Verschwörer. Sie wollten die Verhansung aufheben.«
»War das auch Euer Ziel?«
»Nein…«
»Warum also?« Andreas begriff diesen Mann immer weniger.
»Die Toten…«
»Welche Toten?«
»Es wären so viele gewesen. Ich wollte ihnen nahe sein. Ich wollte ihre letzten Worte hören. Vater, ich habe so viel gesündigt.«
»Sprich weiter«, sagte Andreas angeekelt. Nun erst spürte er, wie die kalte Luft des Kellergewölbes ihm um die nackten Beine fuhr. Das Licht aus der umgestürzten Laterne riss Löcher in die Schatten und die Dunkelheit.
»Ich… ich habe den Herrn versuchen wollen«, sagte Heynrici schwer. »Ich habe ungeheuer Gutes getan und dagegen das vollkommen Böse gesetzt. Ich habe den Kranken geholfen und viele von ihnen eigenhändig getötet.«
»Warum?« Andreas war zu keinen tiefer gehenden Fragen mehr in der Lage. Heynricis Beichte wurde immer ungeheuerlicher.
»Ich wollte aus den letzten Worten der Sterbenden meinen Zauber formen, nachdem die Bücher nichts hergegeben hatten.
Ich wollte Gott so sehr erzürnen, dass er zu mir kommt. Deshalb habe ich jede Gelegenheit zum Morden wahrgenommen. Ich hatte keine Angst vor der Lepra, denn der Teufel war mit mir und hat mich beschützt.« Er hustete; ein leichter Blutfaden quoll aus seinem Mund. »Ich habe auch Ludwig Leyendecker getötet.«
Andreas schaute zu Elisabeth auf, die sich eng in sein Priestergewand gewickelt hatte. Er sah, dass sie jedes Wort mitbekommen hatte. Sie rührte sich nicht.
Heynrici sprach weiter: »Der Plan der Verschwörer war mir völlig gleichgültig. Ludwig Leyendecker musste sterben, weil er zur falschen Zeit am falschen Ort war. Heinrich Bonenberg war zu feige, ihn eigenhändig aufzuknüpfen, und hat mir diese Arbeit überlassen. Es waren wertvolle Worte, die der Sterbende mir mitgeteilt hat. Worte, die zu Gott und zum Satan führen. Aber meine Arbeit ist nicht vollendet.«
Welcher Dämon sprach da aus ihm? Er hatte nur gemordet um des Mordens willen? Nur um der letzten Worte der Sterbenden willen?
Heynrici fuhr fort: »Heute bin ich zu spät gekommen; eine Wache an der Ehrenpforte hat mich aufgehalten. Ansonsten wäre das Rathaus schon in die Luft geflogen, und ihr hättet mich als rettenden Engel mitten zwischen den Sterbenden gesehen. Oh, wie ich ihre Worte getrunken hätte! An der Schwelle des Todes sehen die Menschen die jenseitige Welt. Und sie erkennen deren Geheimnisse. Geheimnisse, die ich ihnen entreißen wollte. Geheimnisse, die mich auf meinen eigenen Weg zu Gott gebracht haben. Als meine Frau starb, habe ich zum ersten Mal versucht, Kontakt mit der jenseitigen Welt aufzunehmen.« Er lächelte schwach. »Ich bin immer weiter auf diesem Weg gegangen. Ich wollte Gott zu mir herabzwingen, auf geraden und auf krummen Wegen.«
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