»Es sind weniger, als ich befürchtet habe«, brummte Wulfoald zufrieden.
»Sie sind zahlreich genug, um sich Zugang zur Abtei zu verschaffen und uns zu vernichten«, entgegnete der Ehrwürdige Ionas skeptisch.
Fidelma blickte prüfend auf die gegnerischen Krieger hinunter. Sie hatten vor den Toren Stellung bezogen und warteten auf die Befehle ihrer Anführer. Den schwarzbärtigen Seigneur von Vars hatte sie bereits erkannt, und neben ihm entdeckte sie Kakko, den massigen Verwalter, der ein Kriegsbeil schwang, als wäre es eine Haselrute.
»Oh, seht nur! Seht nur dort!«, rief Schwester Gisa.
Ein junger Krieger hatte sich von Grasulfs Seite gelöst und kam weiter vorgeritten. Trotz seiner kriegerischen Aufmachung mit glänzendem Brustharnisch, Helm und allem, was zu einer Rüstung gehörte, waren ihnen seine Bewegungen vertraut. Er brachte sein fahles Ross zum Stehen, nahm den Helm ab und sah verächtlich nach oben.
»Bruder Faro!«, stöhnte Magister Ado mit zusammengebissenen Zähnen.
Fidelma nickte traurig. »Da haben wir den Anführer der Verschwörung, die so viele Tote gefordert hat. ›Siehe, ein fahles Pferd; und der darauf saß, des Name hieß Tod, und die Hölle folgte ihm nach‹, heißt es in der Offenbarung des Johannes.«
Fassungslos murmelte Magister Ado: »Bruder Faro war doch mein Schüler. Wie konnte er sich auf Verrat und Schreckenstaten einlassen?«
Bruder Faro hatte die Gestalten oben erspäht und brachte sein Pferd noch etwas näher heran.
»Wir sind gekommen, um etwas zu holen, das Grasulf, dem Seigneur von Vars, gehört, und der bald auch Seigneur von Trebbia sein wird«, verkündete er mit triumphalem Lächeln. Er drehte sich um und wies auf die Nekropole. Zwei von Grasulfs Kriegern verließen den Rest und ritten geschwind in die Totenstadt. Ungerührt lenkten sie die Pferde über die Gräber zu den Mausoleen der Äbte. Alles wartete schweigend, selbst, als man Stein auf hartes Metall schlagen hörte. Faro gab sich auf seinem Pferd gelassen, blickte aber unbewegt zu ihnen nach oben.
»Ich empfehle euch, öffnet die Tore. Wir würden die Abtei lieber friedlich einnehmen, als mit Waffen und Feuer gegen euch vorzugehen.«
Der Ehrwürdige Ionas schaute nervös zu Wulfoald, der ihm standfest zu bleiben gebot. »Nicht wankelmütig werden! Radoald rückt bald an. Er kommt bestimmt.« Der Gelehrte nickte und rief voller Verachtung zu Bruder Faro hinunter: »Du weißt, dass du dich gegen ein Gotteshaus wendest, Bruder Faro. Was ist aus deinem Gelübde geworden, dass du uns verrätst und deinen eigenen Brüdern mit Waffengewalt drohst?«
»Ich habe ein weitaus strengeres Gelübde vor meinem König abgelegt, und das war lange, bevor ich mir zum Schein die grobe wollene Kutte überzog«, bekam er zur Antwort. »Ich bin Faro, Seigneur von Turbigo.« Der junge Mann entdeckte unter den Obenstehenden Schwester Gisa, und seine Gesichtszüge wurden weicher. »Gisa, es tut mir leid, dass du erst jetzt und unter leidigen Umständen mit dem wahren Sachverhalt konfrontiert wirst. Glaube mir, was zwischen uns gewesen ist, war nicht gespielt, war aufrichtig. Ich biete dir auch jetzt meinen Schutz an und meine Hand, meine Liebe. Lass ab von deinen frommen Schwestern und komm mit mir.«
Sie hatte, am ganzen Leib zitternd, dagestanden. Doch plötzlich ging ein Ruck durch sie, da sie die volle Wahrheit begriff, und empört schrie sie zu ihm hinab: »Deine Hand und deine Liebe?« Tränen schossen ihr in die Augen. »Die Hand eines Mörders?«
»Die Hand des Seigneurs von Turbigo, Befehlshabers im Heere Perctarits, des rechtmäßigen Königs der Langobarden«, entgegnete er.
Von der Nekropole schallte ein wütender Ruf herüber. Einer der Männer kam im Galopp zurück. Was er Faro mitzuteilen hatte, konnte die kleine Gruppe auf der Mauer nicht verstehen. Faro schaute hoch.
»So, ihr habt also genommen, was rechtmäßig Grasulf gehört! Ich befehle euch, uns den Fund umgehend auszuhändigen.«
Grasulf hatte den Wortwechsel mitbekommen und sich mit seinem Ross nach vorn an Faros Seite gedrängt.
»Das Gold habt ihr gestohlen?«, fragte er laut und voller Hohn. »Egal, wir brennen euch nieder und schlagen euch so oder so zusammen!« Dann bemerkte er Fidelma. »Sieh mal einer an, da haben wir ja alle Vögelchen beieinander, und sogar die Prinzessin aus Hibernia. Kannst dich schon freuen, sollten wir deiner lebend habhaft werden – eine Prinzessin bringt ein schönes Lösgeld, besonders bei Sklavenhändlern.« Und mit einem Blick zu Faro fuhr er fort: »Los, Faro, wir sollten uns weitere Worte sparen. Sie haben unser Ultimatum. Die Tore sind auf der Stelle zu öffnen, oder wir beginnen mit dem Angriff und legen hier alles in Schutt und Asche, wenn sie sich nicht ergeben.«
Faro lehnte sich im Sattel zurück. »Ihr habt gehört, was der Seigneur von Vars bestimmt«, rief er. »Ihr habt die Wahl. Macht die Tore auf, oder wir schießen Brandpfeile in eure Dächer.«
»Öffnet die Tore! Öffnet die Tore!«, ertönte plötzlich eine Stimme auf dem Hof. Es war Bruder Wulfila, der Verwalter, der zum Portal stürmte. Bruder Bladulf, daran gewöhnt, vom Verwalter Befehle zu erhalten, machte sich bereits am Tor zu schaffen und schob den Riegel zurück.
»Unser dritter Verschwörer!«, rief Fidelma. »Ich hätte euch warnen sollen. Gebietet ihm Einhalt!« Aber das Stimmengewirr im Hof schwoll zusehends an, so dass sie niemand hörte. Sie beschwor den Ehrwürdigen Ionas. »Du musst ihm Einhalt gebieten. Wulfila ist Perctarits Mann.«
Der Ehrwürdige Ionas war vollends verwirrt und handlungsunfähig, Wulfoald jedoch sprang von der Mauer, stürzte auf die Tore zu und versuchte den Verwalter zurückzureißen. Der aber hatte bereits eine der schweren Holzstangen gelöst, wandte sich um und holte wie ein geübter Krieger damit aus. Der Schlag traf Wulfoald seitlich am Kopf und brachte ihn zu Fall. Wulfila stürzte durch das entsicherte Tor nach draußen.
Inmitten des Tumults und Lärms erklangen Hörner, lange und eindringliche Kriegssignale. Eine größere Gruppe Berittener galoppierte über den Fluss, Banner wehten und näherten sich eilends Grasulfs raubgieriger Meute. Faro erkannte die drohende Gefahr, setzte den Helm auf und zog das Schwert. Grasulf brach in ein fluchendes Gebrüll aus.
»Radoald!«, rief Aistulf triumphierend.
Fidelma, die kein Auge von Bruder Wulfila ließ, sah, wie er durch das offene Tor nach draußen rannte und der durcheinandergeratenen Truppe von Grasulf entgegenstürzte. Mit ausgestreckter Hand rief er: »Haltet ein! Ich bin es, Wulfila, so wartet doch! Ich … ich …«
Einer von Grasulfs Männern drehte sich mit gespanntem Bogen um – sein Pfeil durchbohrte Wulfilas Kehle. Ohne auch nur einen Laut von sich zu geben, sank der ehemalige Verwalter der Abtei zu Boden.
Es blieb keine Zeit, weitere Gedanken auf ihn zu verschwenden, denn Radoalds Krieger preschten in die von den Ereignissen überwältigte feindliche Reiterschar. Der Kampf dauerte nicht lange, wenngleich er Fidelma eine Ewigkeit schien. Schon bald jagten die Unterlegenen fliehend ins Tal und ließen Tote und Verwundete zurück. Zu den Toten gehörte auch der Seigneur von Vars.
Schwester Gisa stand tränenüberströmt neben Fidelma und starrte auf die dahingestreckten Leiber. »Er ist entkommen«, stellte sie fest, »ist mit den anderen geflohen.«
Eine Woche später wartete Fidelma am Kai im Hafen von Genua auf das Auslaufen ihres Schiffes. Die Besatzung traf die letzten Vorbereitungen. Schwester Gisa und Wulfoald hatten sie begleitet, und so standen sie zu dritt unten am Laufsteg.
»Ich kann nicht gerade behaupten, dass es mir leid tut, abreisen zu müssen«, erklärte Fidelma.
»Und doch fühlst du dich mit uns verbunden«, meinte Schwester Gisa zaghaft, »wir werden dich vermissen.«
»Alles hat einen guten Ausgang gefunden, und dafür sind wir dir sehr dankbar«, fügte Wulfoald hinzu. »Grimoald hat Perctarit und seine Rebellen ins Land der Franken zurückgedrängt. Die Verschwörung, um Grasulf mit Gold zu bezahlen, dass er sich der wichtigen Verkehrswege des Tals bemächtigt, konnte vereitelt werden, der Seigneur von Vars ist erschlagen, seine Macht gebrochen.«
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