Fidelma hatte der Unterhaltung schweigend zugehört. Derweil waren sie bereits ein beträchtliches Stück bergauf geritten. Wulfoald schlug schließlich vor, dort abzusteigen, wo der Hauptweg abzweigte. Fidelma erinnerte sich, dass sie also nicht weit von Hawisas Hütte waren. Leises Wiehern drang an ihr Ohr. Schon hatte Wulfoald sein Schwert gezogen und war vom Pferd geglitten. Warnend hielt er den Finger an die Lippen. Umsichtig stieg er den Pfad hoch, an dem sie stehen geblieben waren. Sie saßen und warteten. Es dauerte nicht lange, da kam er zurück, sein Schwert steckte bereits wieder in der Scheide.
»Das sind die Pferde und das Maultier von Bruder Bladulf und seinen Leuten. Sie haben sie da oben in einer kleinen Lichtung angebunden und sind zu Fuß zum Heiligtum hochgegangen, um den Leichnam heimzuholen. Wir lassen unsere Tiere auch dort, der Pfad wird zu steil für sie.«
So wurden Pferde und Muli zwischen den Bäumen angebunden. Der Fleck konnte den Tieren behagen, ein Bach plätscherte vorbei, und ringsum wuchs saftiges Grass. Erst ein ziemliches Stück oberhalb begann das Gebiet, in dem das Feuer gewütet hatte.
»Wenn ich mich nicht irre, steht Hawisas Hütte gleich über der Steigung da.« Fidelma wies nach oben.
»Das stimmt«, erwiderte Wulfoald. Sein Gesicht wirkte auffallend angespannt.
Schon von weitem nahm Fidelma den beißenden Geruch von eben verbranntem Holz wahr. Der auf-und abschwellende Wind hatte begonnen, puderfeine Asche aufzuwirbeln. Auch Wulfoald hatte das bemerkt und eilte mit großen Schritten die Steigung hinauf.
»Ich will erst mal sehen, wie weit sich das Feuer in den Wald gefressen hat«, rief er ihr über die Schulter zu. Wieder beschlich Fidelma die Vorahnung, die ihr schon gekommen war, als sie noch auf dem Hof der Abtei gestanden und die Rauchsäule am Berg gesehen hatte. War der Waldbrand von selbst entstanden oder hatten ihn Grasulf und seine Leute gelegt? Vielleicht lauerten sie noch irgendwo im Hinterhalt.
»Wir sollten uns jetzt mit aller Vorsicht bewegen«, riet sie.
»Warum denn?« Die Stimme des Händlers klang schrill vor Erregung. Eine Antwort erhielt er nicht.
Als sie an die Stelle kamen, wo das Feuer gewütet hatte, fühlte sich Fidelma ausgesprochen unwohl. Wenn ihre Vermutung stimmte, dass Hawisa die Wahrheit gesagt hatte, als sie behauptete, Wamba sei sofort zur Abtei geschafft worden, Wulfoald aber gelogen hatte, dann hätte er Grund, ihr etwas anzutun. Sie war froh, dass der Ehrwürdige Ionas den Händler überredet hatte, sie zu begleiten. Dessen Hilfe war immerhin besser als gar keine. Wenn nur nicht alles so verwirrend gewesen wäre. Wulfoald war sich seiner Sache offenbar völlig sicher. Oder irrte sie sich da? Und wenn dem so war, warum hatte Hawisa gelogen? Hatte das etwas mit der Entschädigung für die Münze zu tun, hing es mit dem Gold zusammen?
Die Gegend kam Fidelma vertraut vor, als sie den Hauptweg verließen und in das Waldstück hineingingen. Die Vorahnung, die sie schon geplagt hatte, überfiel sie mit voller Wucht. Die heftigen Regenschauer hatten die Flammen gelöscht, doch der alles durchdringende Geruch von Rauch und angebranntem Holz war geblieben … und lag da noch etwas in der Luft? Es roch merkwürdig, als hätte man ein Schwein am Spieß gebraten. Dann sah sie die Trümmer der Hütte. Die Lage an dem herabschießenden Gebirgsbach war das einzige Erkennungszeichen in der schwarz verkohlten Umgebung. Dort, wo einmal die Tür zu der Hütte gewesen war, vor der sie noch vor wenigen Tagen gesessen hatte, lagen die Überreste einer Leiche, zu verkohlt und verkrümmt, als dass man den Toten sofort erkannt hätte.
Fidelma erstarrte. Ohne jede Warnung drang ein Schrei zu ihr, ein Schrei, schrill wie von einem Tier. Eine Gestalt kam auf sie zugerannt, in der hocherhobenen Hand die blitzende Klinge eines Messers. Fidelma war unfähig, sich zu rühren beim Anblick des Wesens, das da zwischen den geschwärzten Baumstämmen hervorbrach, bekam aber mit, wie Wulfoald sich blitzschnell vor sie stellte und den Angreifer beiseite schleuderte. Der ließ das Messer fallen und wälzte sich auf dem mit Asche bedeckten Boden. Wulfoald stand mit gezogenem Schwert über dem Gestürzten, der einfach dalag und dessen Schultern sich seltsam hoben und senkten. Nur einen Augenblick dauerte es, dann begriff sie, er schluchzte hemmungslos.
Im gleichen Moment hörte sie den Händler Ratchis einen Schreckensschrei ausstoßen und sah, wie er den Berg hinab zu der Lichtung rannte, auf der sie ihre Reittiere gelassen hatten. Sie rief ihm hinterher, wusste aber sogleich, wie sinnlos das war, und wagte sich ein paar Schritte zu Wulfoald vor.
Der Krieger bückte sich, packte den Angreifer am Kragen und zog ihn hoch. Es war ein junger Mann, wohl keine zwanzig Jahre alt. Sein Haar war zerzaust, das Gesicht mit Ruß beschmiert und tränenüberströmt. Gekleidet war er wie alle Ziegenhirten in der Gegend.
Wulfoald schüttelte die Unglücksgestalt, wie ein Wolf seine Beute schüttelt, und zwang ihn derb, seine Fragen zu beantworten. Dann drehte er sich zu Fidelma und übersetzte.
»Der Bursche hat geglaubt, wir seien diejenigen, die das Unheil hier angerichtet haben.« Er wies mit dem Kopf zu den niedergebrannten Trümmern. »Hawisa ist tot, und auch ein paar ihrer Tiere sind umgekommen. Deshalb hat er sich auf uns gestürzt.« Forschend betrachtete Wulfoald den Jungen von oben bis unten. »Das ist der Neffe von Hawisa. Odo heißt er. Ich erkenne ihn trotz Ruß und Ascheschlamm.«
Zu Fidelmas Überraschung machte der junge Mann plötzlich den Mund auf und erklärte in dürftigem, aber verständlichem Latein: »Ja, Hawisa war meine Tante. Euch kenne ich nicht.«
»Ich stehe bei Seigneur Radoald in Diensten«, erklärte ihm der Krieger. »Das ist Fidelma aus Hibernia.«
»Du heißt also Odo?«, fragte ihn Fidelma. »Und du bist der Ziegenhirt, der die Herde übernahm, als Wamba starb?«
»Du bist doch eine Fremde hier, woher weißt du das alles?«
»Deine Tante hat es mir erzählt. Vor ein paar Tagen habe ich mich mit ihr unterhalten.«
»Sie konnte doch aber kein Latein.«
»Das wusste ich. Ich hatte einen Dolmetscher bei mir. Wie kommt es, dass du Latein sprichst?«
Der junge Bursche streckte sich. »Die frommen Brüder haben mich unterrichtet, und wann immer ich kann, rede ich mit Aistulf.«
»Mit Aistulf, dem Einsiedler? Der scheint mir ein ganz außergewöhnlicher Eremit zu sein. Er soll ja auch deinen Vetter Wamba das Spielen auf der Muse gelehrt haben.«
»Das hat dir wohl Hawisa erzählt. Wamba war sehr gescheit. Er wäre ein guter Spieler auf der Muse geworden …«
»… wenn er länger gelebt hätte«, beendete Wulfoald den Satz.
Fidelma überging den Einwurf. »Wegen Wamba war ich vor ein paar Tagen hier und habe mit deiner Tante gesprochen, heute wollte ich noch ein paar Dinge mit ihr klären. Doch nun ist alles, ihre Hütte und …« Sie sprach nicht weiter, sondern nickte nur stumm zu den verkohlten Resten hinüber. »Suchen wir uns eine bessere Stelle, wo wir miteinander reden können.«
Sie gingen ein Stück bergab. Odo hob noch eine Decke auf, die er auf einem Felsbrocken abgelegt hatte. Auf ihren erstaunten Blick hin erklärte er ihnen: »Die hatte ich hergebracht, um meine Tante zu bedecken und ihre Leiche vielleicht dahin zu schaffen, wo sie ordentlich begraben werden kann.« Sie warteten, bis er die Decke über den verkohlten Leichnam gebreitet hatte, und gingen dann zu dritt zu der vom Feuer verschonten Lichtung, auf der ihre Pferde standen. Die Rosse grasten friedlich neben dem rauschenden Bach, doch Ratchis’ Muli war verschwunden.
Suchend schaute sich Wulfoald um. »Ich nehme an, unser tapferer Handelsmann ist uns untreu geworden. Hättest du ihn überhaupt noch gebraucht?«
Fidelma schüttelte den Kopf und hockte sich auf den Stamm eines umgestürzten Baums. Mit einer Handbewegung lud sie Odo ein, sich neben sie zu setzen. »Du meinst also, das war kein von selbst entstandener Waldbrand?«
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