Ich hätte vor Wut am liebsten ausgespuckt … und das tat ich auch.
Was hätte Marie Anne Lavoisier an meiner Stelle getan?, überlegte ich. Hätte sie sich schäumend und qualmend vor der Tür aufgebaut wie einer dieser Minivulkane, die entstehen, wenn man ein Häufchen Ammoniumdichromat anzündet? Wohl kaum. Marie Anne hätte die Chemie Chemie sein lassen und sich die Tür vorgenommen.
Ich drehte kräftig am Türknauf, warf mich gegen die Tür - und kippte vornüber. Irgendein Blödmann war hier gewesen und hatte nicht wieder abgeschlossen! Hoffentlich hatte mich niemand gesehen. Zum Glück fiel mir das noch ein, denn das bewog mich, Gladys mit hinter die Mauer zu nehmen, wo sie vor neugierigen Blicken sicher war.
Ich ging um die mit Brettern abgedeckte Mechanikergrube herum und an den Regalen mit vergilbten Zeitungen entlang.
Im Handumdrehen entdeckte ich die gesuchte Ausgabe des Hinley-Kurier. Wie vermutet war der Nachruf auf Mr Twining am Freitag nach dem Artikel über seinen Tod erschienen:
Twining , Grenville, M A (Oxfordshire), vergangenen Montag in der Greyminster School bei Hinley im Alter von
Und wo lag der Verstorbene begraben? Hatte man seinen Leichnam in seine Heimatstadt Winchester überführt und an der Seite seiner Eltern beigesetzt? Oder war er in Greyminster beerdigt worden? Eher nicht. Mir kam es wahrscheinlicher vor, dass ich sein Grab auf dem Friedhof von St. Tankred finden würde, keine zwei Minuten vom Magazin entfernt.
Ich ließ Gladys hinter der Garage stehen, denn ich wollte keine unnötige Aufmerksamkeit erregen. Wenn ich mich duckte und mich immer an der Hecke hielt, die den Treidelpfad säumte, konnte ich ungesehen auf den Friedhof gelangen.
Als ich die Tür nach draußen aufmachte, vernahm ich Hundegebell. Vorne an der Gasse stand Mrs Fairweather, Vorsitzende des kirchlichen Frauenkreises, der für den Blumenschmuck auf dem Altar zuständig war, mit ihrem Corgi. Ich zog die Tür leise wieder zu, ehe sie oder der Hund mich erblickte, und beobachtete verstohlen durchs Fenster, wie der Hund eine Eiche beschnüffelte, während Mrs Fairweather unverwandt in die Ferne sah und tat, als wüsste sie nicht, was am anderen Ende der Leine vor sich ging.
Verflixt! Jetzt musste ich warten, bis der Köter sein Geschäft erledigt hatte. Ich sah mich um.
Zu beiden Seiten standen behelfsmäßige Regale, deren grob gesägte, durchhängende Bretter den Eindruck machten, als hätte sie ein williger, aber unfähiger Amateurschreiner angebracht.
Rechts standen die verstaubten Jahrgänge längst veralteter Nachschlagewerke wie Crockfords Kirchenlexikon, Hazells’ Jahrbuch, Whitakers Almanach, Kellys Branchenverzeichnis und Brasseys Marinejahrbuch, und alle waren sie dicht an dicht auf die unbehandelten Fächer gestapelt, die einst edlen roten, blauen und schwarzen Einbände von der Zeit und dem gelegentlich einfallenden Tageslicht braun geworden, und allesamt rochen sie nach Mäusen.
Die Regale linkerhand waren reihenweise mit gleich aussehenden Bänden bestückt, auf deren Rücken mit verschnörkelten gotischen Buchstaben Der Greyminsterianer eingeprägt war. Das mussten die Jahrbücher von Vaters alter Schule sein, denn solche Wälzer standen auch auf Buckshaw. Ich zog einen Band heraus, sah aber gleich, dass er aus dem Jahr 1942 stammte.
Ich schob ihn wieder zurück und fuhr mit dem Zeigefinger die Bücherrücken entlang: 1930 … 1925 … 1920! Mit bebenden Händen nahm ich den Band heraus und blätterte ihn hastig von hinten nach vorn durch. Lauter Artikel über Kricket-spiele, Ruderwettkämpfe, Leichtathletik, Stipendien, Rugby, über Fotografie und Naturkunde. Über den Magischen Zirkel oder den Briefmarkenclub konnte ich nichts finden, dafür hier und da Fotos, auf denen in Reihen aufgestellte Jungen in die Kamera grinsten und manchmal auch Grimassen schnitten.
Gegenüber der Titelseite war ein schwarz gerahmtes Porträtfoto abgedruckt. Ein ehrwürdiger Herr mit Barett und Talar saß ungezwungen auf der Kante eines Lehrerpults, hielt ein Lateinbuch in der Hand und blickte den Fotografen mit verhaltener Belustigung an. Unter dem Foto stand: »Grenville Twining 1848-1920«.
Das war alles. Kein Wort zu den näheren Umständen seines Todes, kein Nachruf, kein liebevolles Gedenken. Hatte es eine allumfassende Verschwörung des Schweigens gegeben?
An dem Mann war mehr dran, als man auf den ersten Blick vermuten mochte.
Ich blätterte langsamer, diesmal in umgekehrter Richtung, überflog die Artikel und las die gelegentlichen Bildunterschriften.
Als ich zu zwei Dritteln durch war, stach mir der Name »de Luce« ins Auge. Das zugehörige Foto zeigte drei Jungen in kurzärmligen Hemden und mit Schülermützen auf den Köpfen. Vor ihnen, auf einer auf der Wiese ausgebreiteten Decke, stand ein Picknickkorb. Auf der Decke lagen alle möglichen Lebensmittel. Offenbar veranstalteten die drei ein zünftiges Picknick. Es gab einen Laib Brot, ein Glas Marmelade, einen Obstkuchen, Äpfel und etliche Flaschen mit Ingwerbier.
Die Unterschrift lautete: »Wie weiland bei Omar Khayyam - üppig bewirtet aus Greyminsters Küche. Von links nach rechts: Haviland de Luce, Horace Bonepenny und Bob Stanley posieren für ein lebendes Bild nach dem Werk des persischen Dichters.«
Der Junge ganz links, der im Schneidersitz auf der Decke saß, war unverkennbar Vater. Er sah glücklicher und fröhlicher und sorgloser aus, als ich ihn je gekannt hatte. Der lange, knochige Bursche in der Mitte, der tat, als wollte er gerade in ein belegtes Brot beißen, war Horace Bonepenny. Ihn hätte ich sogar ohne Beschriftung erkannt. Seine feuerroten Locken erschienen auf dem Foto als geisterhaft weiße Aura um seinen Kopf.
Ich erschauerte, denn ich musste daran denken, wie er im Tode ausgesehen hatte.
Etwas abseits seiner beiden Kameraden schien der dritte Junge großen Wert darauf zu legen, im Profil aufgenommen zu werden, denn er legte den Kopf unnatürlich schief. Er war ein dunkler Typ, gut aussehend und älter als die beiden anderen, und hatte etwas Verführerisches an sich, wie ein Stummfilmstar.
Ich konnte es nicht erklären, aber sein Gesicht kam mir seltsam bekannt vor.
Dann zuckte ich zusammen, als hätte mir jemand eine Eidechse in den Kragen gesteckt. Ich hatte ihn tatsächlich schon einmal gesehen, und das erst kürzlich! Der dritte Junge auf dem Foto war zu ebenjenem Mann herangewachsen, der sich mir erst gestern als Frank Pemberton vorgestellt hatte, Frank Pemberton, der im Tempelchen neben mir im Regen gestanden hatte, Frank Pemberton, der mir heute Morgen erzählt hatte, er wolle in Nether Eaton ein Grabmal besichtigen.
Mit einem Mal fügte sich eins zum anderen, und ich sah die Lösung so deutlich vor mir, als wären mir, wie einst Saulus, Schuppen von den Augen gefallen.
Frank Pemberton war Bob Stanley, und Bob Stanley war sozusagen »Der Dritte Mann«. Er war es, der Horace Bonepenny in unserem Gurkenbeet umgebracht hatte, dafür hätte ich jederzeit mein Leben verwettet.
Als mit einem Mal alle Puzzleteilchen zusammenpassten, hämmerte mein Herz zum Zerspringen.
Von Anfang an war etwas an Pemberton nicht ganz koscher gewesen, und auch daran hatte ich seit unserer gestrigen Begegnung im Tempelchen nicht mehr gedacht. Was hatte er da doch gleich gesagt?
Wir hatten übers Wetter gesprochen, wir hatten uns einander vorgestellt. Er hatte zugegeben, dass er bereits wusste, wer ich war, weil er meine Familie im Who’s Who nachgeschlagen hatte. Wozu, wenn er doch Vater seit Urzeiten kannte? Hatte diese Lüge meine unsichtbaren Antennen zum Zucken gebracht?
Er hatte einen leichten Akzent gehabt, fiel mir ein. Nicht sehr auffällig, aber dennoch …
Er hatte mir erzählt, dass er an einem Buch arbeitete: Pembertons Herrensitze - Ein Bummel durch die Zeitläufte . Das mochte stimmen.
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