Mit einem heiteren Lächeln nahm Dr. Kissing die Zigarette aus dem Mund und hielt die glühende Spitze an die Ecke des Rächers von Ulster.
Mir war zumute, als hätte mir jemand einen Feuerball ins Gesicht geschleudert und Stacheldraht um die Brust gespannt. Ich fuhr erst zusammen, dann erstarrte ich vor Schreck, konnte nur hilflos zusehen, wie die Briefmarke zu qualmen anfing und ein Flämmchen sich gemächlich, aber unerbittlich durch das jugendliche Antlitz Königin Viktorias fraß.
Als das Flämmchen an seinen Fingern ankam, ließ Dr. Kissing die geschwärzte Marke auf den Boden fallen. Unter dem Saum seines Morgenmantels tauchte ein blank gewienerter schwarzer Schuh auf, stellte sich sachte auf die Asche und zermalmte sie mit ein paar kurzen Drehbewegungen.
Es dauerte nur drei dröhnende Herzschläge, dann erinnerte nur noch ein schwarzer Fleck auf dem Linoleum in Haus Krähenwinkel an den Rächer von Ulster.
»Die Marke in deiner Tasche hat ihren Wert soeben verdoppelt«, verkündete Dr. Kissing. »Hüte sie gut, Flavia. Jetzt ist sie die Einzige ihrer Art auf der ganzen Welt.«
Immer wenn ich im Freien bin und mal so richtig nachden ken will, lege ich mich auf den Rücken, strecke Arme und Beine aus, sodass ich wie ein Seestern aussehe, und schaue in den Himmel. Erst amüsiere ich mich ein Weilchen mit meinen »Schwimmern«, den wurmähnlichen Proteinfäden, die wie kleine dunkle Galaxien kreuz und quer durch mein Gesichtsfeld treiben. Wenn ich es nicht eilig habe, mache ich einen Kopfstand, um sie durcheinanderzuwirbeln, dann lege ich mich wieder hin und schaue mir die Vorstellung an wie einen Zeichentrickfilm.
Heute jedoch ging mir viel zu viel im Kopf herum, weshalb ich mich, nachdem ich fast zwei Kilometer weit von Haus Krähenwinkel weggeradelt war, auf die grasbewachsene Stra ßenböschung legte und einfach nur in den Sommerhimmel blickte.
Etwas, das mir Vater erzählt hatte, wollte mir nicht aus dem Kopf gehen, nämlich dass die beiden, er und Horace Bonepenny, Mr Twining umgebracht hätten; dass sie persönlich für seinen Tod verantwortlich seien.
Wäre es nur wieder mal eines von Vaters Hirngespinsten gewesen, hätte ich es längst wieder vergessen, aber an der Sache war eindeutig mehr dran. Auch Miss Mountjoy war davon überzeugt, dass die Jungen ihren Onkel umgebracht hatten, das hatte sie mir selbst gesagt.
Dass Vater sein schlechtes Gewissen plagte, war nicht zu übersehen. Schließlich hatte auch er darauf gedrungen, Dr.
Nein, an der Sache musste noch mehr dran sein, aber ich kam einfach nicht darauf, was.
Ich lag im Gras und schaute so eindringlich zum blauen Himmelsgewölbe empor, wie die alten, auf Säulen hockenden indischen Fakire damals in die Sonne gestarrt hatten, ehe wir gekommen waren, um sie zu zivilisieren, aber mir wollte partout nichts Brauchbares einfallen. Unmittelbar über mir stand die Sonne wie eine große, gleißende Null und brannte mir auf den leeren Schädel.
Ich dachte messerscharf nach, rasiermesserscharf, skalpellscharf - es half alles nichts.
Aber halt! Genau! Das war’s! Vater hatte nichts getan. Gar nichts! Er hatte im selben Augenblick, als es geschah, gewusst oder zumindest vermutet, dass Bonepenny die kostbare Marke des Rektors gestohlen hatte … und trotzdem hatte er niemandem ein Sterbenswörtchen davon gesagt.
Das war ganz klar eine Unterlassungssünde gewesen: eines jener Vergehen aus dem kirchlichen Verzeichnis der Verfehlungen, das Feely so gern im Munde führte und das anscheinend auf jedermann anzuwenden war außer auf sie selbst.
Aber Vaters Schuld war eine moralische, und von daher mochte ich mich nicht zum Richter über ihn aufschwingen.
Trotzdem ließ es sich nicht abstreiten: Vater hatte geschwiegen und durch sein Schweigen womöglich den herzensguten alten Mr Twining dazu gebracht, die Schuld ganz allein auf sich zu nehmen und den Vertrauensbruch mit seinem Leben zu bezahlen.
Es musste doch damals Gerüchte gegeben haben … Die Einheimischen in diesem Winkel Englands waren noch nie für ihre Verschwiegenheit bekannt gewesen, ganz im Gegenteil. Hundert Alltagsfragen und Antworten für den anspruchsvollen Haushalt, die Mrs Mullet in der Speisekammer liegen hatte, war mir schon länger aufgefallen, dass man am besten zurechtkommt, wenn man den Nächstbesten anspricht und sich einfach erkundigt. Dann kann man auf derlei Nachschlagewerke verzichten.
Ich konnte Vater schlecht danach fragen, warum er damals als Schuljunge geschwiegen hatte. Selbst wenn ich mich getraut hätte, so saß er doch auf der Polizeiwache in der Arrestzelle und würde vorerst auch dort bleiben. Miss Mountjoy konnte ich auch nicht fragen. Die hatte mir die Tür vor der Nase zugeschlagen, weil sie in mir die Nachfahrin eines kaltblütigen Mörders sah. Kurz gesagt, ich war ganz auf mich gestellt.
Den ganzen Tag über hatte es in meinem Hinterkopf gedudelt wie ein Grammophon in einem abgelegenen Zimmer. Hätte ich doch bloß die Melodie erkennen können!
Das Gedudel hatte eingesetzt, als ich in der Bücherei die Zeitungsstapel durchgewühlt hatte. Es handelte sich um etwas, das jemand gesagt hatte … Aber was?
Manchmal lässt sich ein flüchtiger Gedanke so schwer fangen wie ein durchs Fenster hereingeflogener Vogel. Man schleicht sich auf Zehenspitzen heran, will zupacken … und der Vogel ist auf und davon, schlägt mit den Flügeln …
Richtig! Flügel!
Er sah wie ein gestürzter Engel aus, hatte der eine Schüler aus Greyminster gesagt. Toby Lonsdale, jetzt fiel mir der Name wieder ein. Ein sonderbarer Vergleich. Beschrieb ein Schuljunge mit solchen Worten, wie sein Lehrer von einem
Ärgerlicherweise hatte ich nicht gründlich genug gewühlt. Der Hinley-Kurier hatte unmissverständlich vermeldet, dass die polizeilichen Ermittlungen sowohl bezüglich Mr Twinings Tod als auch hinsichtlich des Diebstahls von Dr. Kissings Briefmarke noch nicht abgeschlossen seien. Und der Nachruf? Der musste natürlich später erschienen sein. Was hatte darin gestanden?
Ruckzuck schwang ich mich wieder auf Gladys’ Sattel und radelte wie ein geölter Blitz in Richtung Bishop’s Lacey und Cow Lane.
Erst als ich nur noch drei Meter von der Büchereitür entfernt war, sah ich das Schild: »Geschlossen«. Natürlich! Manchmal hast du wirklich Pudding im Hirn, Flavia, da hat Feely ganz Recht. Heute war Montag. Die Bücherei würde erst wieder am Dienstagmorgen um zehn Uhr öffnen.
Als ich Gladys zum Fluss und zur Garage mit dem Archiv schob, musste ich an die albernen Geschichten aus der Kinderstunde im Radio denken: erzieherisch wertvolle Geschichtchen wie die von der kleinen Lok (Ich schaff es schon … ich schaff es schon …), die einen ganzen Güterzug über den Berg ziehen kann, nur weil sie fest daran glaubt, dass sie es schafft. Und weil sie nicht aufgibt. Nie aufgeben, das war der Schlüssel zum Erfolg.
Der Schlüssel? Ich hatte Miss Mountjoy den Schlüssel zum Magazin zurückgegeben, da war ich ganz sicher. Gab es vielleicht einen Zweitschlüssel? Einen Ersatzschlüssel, der unter einem Fensterbrett versteckt lag für den Fall, dass irgendein vergesslicher Mensch nach Blackpool in Urlaub gefahren war und das Original noch in der Tasche hatte? Da Bishop’s Lacey nicht gerade als landesweit berüchtigtes Verbrechernest galt
Ich befühlte den Türsturz, schaute unter die Geranientöpfe, die den Weg zum Eingang säumten, und hob sogar ein paar verdächtige Steine hoch.
Nichts.
Ich stocherte in den Fugen der Mauer, die von der Straße bis zum Eingang führte.
Nichts, aber auch gar nichts.
Ich spähte durchs Fenster zu den alten Zeitungen hinein, die Stapel neben Stapel friedlich auf den Regalen ruhten. So nah und doch so fern.
Читать дальше