»Du schniefst ja, Schatz«, sagte sie, ohne von ihrem Nudelholz aufzublicken. »Ich mach dir gleich einen schönen Teller Hühnerbrühe.« Konnte sie hellsehen?
Bei »Hühnerbrühe« dämpfte sie die Stimme zu einem Flüstern und warf einen verschwörerischen Blick über die Schulter.
»Heiße Hühnerbrühe!«, raunte sie. »Ein Geheimtipp, den mir Mrs Jacobson beim Teekränzchen der Landfrauen verraten hat. Das Rezept befindet sich schon seit der Flucht aus Ägypten in ihrer Familie. Aber ich habe nichts gesagt, verstanden?«
Mrs Mullets zweite Lieblingsdorfweisheit rankte sich um Eukalyptus. Sie hatte Dogger gezwungen, im Gewächshaus Eukalyptusbäume zu pflanzen, und anschließend die Blätter unverdrossen überall auf Buckshaw als Schutz gegen Erkältung und Grippe versteckt.
»Hat man Eukalyptus hier, bleibt die Grippe vor der Tür!«, hatte sie triumphierend verkündet und tatsächlich Recht behalten. Seit sie die wächsernen dunkelgrünen Blätter an unverdächtigen Orten im ganzen Haus versteckt hatte, hatte keiner von uns auch nur einen Schnupfen gehabt.
Bis jetzt. Anscheinend war etwas schiefgegangen.
»Nein danke, Mrs Mullet«, lehnte ich ab, »ich habe mir grade die Zähne geputzt.«
Das war zwar gelogen, aber etwas Besseres fiel mir auf die Schnelle nicht ein. Abgesehen davon, dass meiner Ausrede etwas Märtyrerhaftes anhaftete, hatte sie den zusätzlichen Vorteil, meinen angeschlagenen Ruf in punkto Körperpflege aufzupolieren. Auf dem Weg nach draußen mopste ich aus der Speisekammer eine Flasche mit gelbem Granulat, die mit dem Etikett Partingtons Geflügelfond versehen war, und von einem Wandkerzenhalter im Flur bediente ich mich mit einer Handvoll Eukalyptusblätter.
Oben im Labor holte ich eine Flasche Natriumkarbonat aus dem Regal, die Onkel Tar in seiner spinnenhaften, gestochen scharfen Handschrift mit der Aufschrift Sal aeratus versehen hatte, und obendrein, akribisch wie immer, mit Sod. Bicarb., um es von Kaliumbikarbonat zu unterscheiden, das manchmal auch als Sal aeratus bezeichnet wird. Pot. Bicarb. war eher in Feuerlöschern als in menschlichen Mägen zu finden.
Ich kannte das Zeug als NaHCO3, vom einfachen Volk auch kurz »Natron« beziehungsweise »Backpulver« genannt. Irgendwo hatte ich auch gehört, dass diese Leute einer tüchtigen Dosis Natron sogar zutrauen, noch die hartnäckigste Erkältung aus dem Körper zu schwemmen.
Chemisch gesehen ist das durchaus folgerichtig, überlegte ich, denn wenn Natron ein Heilmittel ist und Hühnerbrühe auch, dann müsste doch ein Glas sprudelnder Hühnerbrühe wahre Wunder wirken! Mir wurde ganz schwindlig. Vielleicht De Luce’s Grippelösung - Flavias Famose Formel!
Ich summte sogar vergleichsweise vergnügt vor mich hin, während ich einen Viertelliter Trinkwasser in ein Becherglas gab und das Gefäß auf den Bunsenbrenner stellte. Inzwischen kochte ich die klein gerissenen Eukalyptusblätter in einem verschlossenen Glaskolben auf und sah zu, wie sich strohgelbe Öltropfen am Ende der Destillationsschlange absetzten.
Als das Wasser aufsprudelte, nahm ich es von der Flamme und ließ es ein paar Minuten abkühlen, dann gab ich zwei gehäufte Teelöffel Partingtons Geflügelfond und einen Esslöffel gutes altes NaHCO3 hinein.
Anschließend rührte ich kräftig um, bis das Gebräu wie der Vesuv über den Rand des Becherglases brodelte, hielt mir die Nase zu und kippte mir die Hälfte in den Schlund. Ein Schluck, und es war unten.
Hühnersekt! O Herr, schütze uns alle, die wir uns im Weinberg der Experimentalchemie abrackern!
Ich nahm den Stopfen vom Kolben und kippte das Eukalyptuswasser samt den Blättern in die Reste der gelben Suppe. Dann zog ich den Pullover aus, drapierte ihn mir als Inhalierhaube um den Kopf und atmete die kampferhaltigen Dämpfe von Geflügeleukalyptus ein. Schon spürte ich, wie irgendwo in den verschleimten Abgründen meines Schädels meine Nebenhöhlen die Waffen streckten. Ich fühlte mich schon beträchtlich besser.
Da klopfte es so laut, dass mir beinahe das Herz stehen blieb. In diesen Teil des Hauses verirrte sich so selten jemand, dass ein Klopfen so unerwartet kam wie die unvermittelten Orgelakkorde in einem Horrorfilm, wenn die Tür aufgeht, hinter der lauter Leichen liegen. Ich schob den Riegel zurück. Im Flur stand Dogger und wrang seine Mütze in den Händen wie eine
Als ich seine Hände nahm, hörten sie sofort zu zittern auf. Auch wenn ich diese Erkenntnis nicht oft in die Tat umsetzte, so hatte ich doch die Erfahrung gemacht, dass eine Berührung manchmal mehr sagen kann als hundert Worte.
»Wie lautet die Losung?«, fragte ich, verschränkte die Finger und legte die Hände auf den Kopf.
Dogger sah mich ungefähr fünf Sekunden verdattert an, dann wurden seine angespannten Züge milder und er hätte beinahe gelacht. Wie ein Automat verschränkte er die Finger und ahmte mich nach.
»Es liegt mir auf der Zunge …«, sagte er zögernd, dann raunte er: »Die Losung heißt: Arsen.«
»Bloß nicht runterschlucken«, erwiderte ich, »das Zeug ist giftig.«
Mit beträchtlicher Willensstärke rang sich Dogger ein Lächeln ab. Damit war dem Ritual ausreichend Genüge getan.
»Tritt ein, mein Freund«, sagte ich und riss die Tür weit auf.
Dogger kam herein und sah sich so verwundert um, als hätte es ihn unvermittelt in die Werkstatt eines mesopotamischen Alchimisten verschlagen. Er war schon so lange nicht mehr in diesem Teil des Hauses gewesen, dass er das Labor völlig vergessen hatte.
»So viel Glas!«, sagte er mit bebender Stimme.
Ich zog Tars altmodischen Armlehnstuhl vom Schreibtisch heran und hielt das Möbel fest, bis Dogger Platz genommen hatte.
»Setz dich. Ich mach dir was zurecht.«
Ich füllte einen sauberen Kolben mit Wasser und stellte ihn auf einen kleinen Gitterrost. Als ich das Streichholz an den Bunsenbrenner hielt, zuckte Dogger bei dem leisen Plop! zusammen.
»Wird gleich serviert!«, verkündete ich. »Kleinen Augenblick.«
Das Praktische an Laborgläsern ist, dass Wasser darin mit Lichtgeschwindigkeit kocht. Ich warf einen Teelöffel schwarze Blätter in ein Becherglas und kippte das kochende Wasser darüber. Als das Gebräu dunkelrot war, reichte ich es Dogger, der es skeptisch musterte.
»Keine Sorge«, beruhigte ich ihn. »Es ist Tetley’s.«
Er nippte an seinem Tee und pustete, um ihn abzukühlen. Während er trank, fiel mir der Grund ein, weshalb wir Engländer uns eher vom Tee als vom Buckingham Palace oder dem Parlament Seiner Majestät regieren lassen. Abgesehen von der Seele ist das Teekochen das Einzige, was unsereinen vom Menschenaffen unterscheidet. So hatte es jedenfalls der Vikar einmal meinem Vater gegenüber ausgedrückt, der es Feely weitererzählt hatte, die es wiederum Daffy weitererzählt hatte und die wiederum mir.
»Vielen Dank«, sagte Dogger. »Jetzt geht’s mir wieder besser. Aber etwas muss ich dir noch sagen, Miss Flavia.«
Ich hockte auf der Schreibtischkante und gab mir Mühe, kumpelhaft zu wirken.
»Dann raus damit.«
»Na ja …«, Dogger gab sich einen Ruck, »du weißt doch, dass ich hin und wieder … na ja, also, ab und zu jedenfalls, dass ich da manchmal …«
»Klar, Dogger«, erwiderte ich. »Geht uns das nicht allen manchmal so?«
»Ich weiß nicht. Ich kann mich nicht erinnern. Weißt du, die Sache ist nämlich die, dass ich … als ich …«
Er verdrehte die Augen wie eine Kuh im Schlachthof.
»Ich glaube, ich habe womöglich jemandem etwas angetan. Und der Colonel sitzt deswegen jetzt im Bau.«
»Sprichst du von Horace Bonepenny?«
Dogger ließ das Becherglas mit dem Tee auf den Boden fallen.
»Was weißt du über Horace Bonepenny?«, fragte er und packte mich mit eisernem Griff am Handgelenk. Bei jedem anderen außer Dogger hätte ich es mit der Angst zu tun gekriegt.
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