Auch wenn ich mir jeden Knochen im Leib gebrochen hätte, hätte ich nicht gewagt, mich aufzurichten. Eine Million Meilen unter mir, so kam es mir jedenfalls vor, kamen zwei ameisengroße Gestalten aus dem Anson House und gingen quer über den Hof.
Mein erster Gedanke war, dass ich noch am Leben war. Aber sobald ich mich wieder gefasst hatte, wurde ich wütend. Ich ärgerte mich darüber, dass ich so dämlich und unbeholfen war, ärgerte mich über den unsichtbaren Dämon, der mir mittels einer nicht enden wollenden Abfolge von abgesperrten Türen, aufgeschürften Schienbeinen und zerschrammten Ellenbogen das Leben schwer machte.
Ich stand schwerfällig auf und klopfte mir den Schmutz ab. Aber nicht nur mein Kleid war schmutzig, ich hatte es auch fertiggebracht, mir die linke Schuhsohle halb abzureißen. Wie ich das angestellt hatte, war leicht zu begreifen. Ich war an der scharfen Kante eines vorstehenden Ziegels hängen geblieben. Dabei hatte ich ihn aus seiner Verankerung gerissen. Jetzt lag er lose auf dem Dach und glich einer der Steintafeln, auf denen Gott Moses die Zehn Gebote überreicht hatte.
Ich schiebe den Ziegel lieber wieder zurück, dachte ich, sonst tropft den Bewohnern von Anson House irgendwann der Regen auf den Kopf, und wer war dann wieder schuld? - Ich!
Der Ziegel war schwerer, als er aussah. Ich musste mich hinknien, um ihn dorthin zurückzuschieben, wo er hingehörte. Vielleicht hatte er sich gedreht, vielleicht waren auch die benachbarten Ziegel nach unten gerutscht, wie auch immer, jedenfalls wollte das blöde Ding nicht mehr in die Lücke passen.
Ich hätte natürlich in der Lücke umhertasten und feststellen können, ob dort irgendetwas klemmte, aber mir fielen die Spinnen und Skorpione ein, die sich mit Vorliebe in solchen lichtlosen Schlupfwinkeln aufhielten.
Schließlich riss ich mich doch zusammen und griff beherzt hinein. Ganz hinten in der Lücke spürte ich etwas Weiches.
Ich zog die Hand sofort zurück, beugte mich vor und spähte in den Zwischenraum. Außer Dunkelheit war nichts zu erkennen.
Also langte ich in Gottes Namen noch einmal hinein und zupfte meinen Fund mit spitzen Fingern heraus.
Es ging ganz leicht, und das weiche Etwas entfaltete sich dabei wie zuvor die Fahne, die jetzt über meinem Kopf wehte. Es war ein großes Stück abgewetzter, schwerer schwarzer Stoff. Der Umhang eines Internatslehrers. Und fest darin eingerollt, hoffnungslos zerknautscht, fand ich ein ebenfalls schwarzes quadratisches Barett.
Mir war sofort klar wie Kloßbrühe, dass diese Kleidungsstücke irgendwie mit Mr Twinings Tod zusammenhingen. In welcher Hinsicht? Das würde ich noch herausfinden!
Stimmt schon, ich hätte die Sachen dort auf dem Dach liegen lassen sollen. Ich hätte das nächstbeste Telefon aufsuchen und Inspektor Hewitt anrufen sollen. Stattdessen lautete mein nächster Gedanke: Wie komme ich ungesehen wieder weg aus Greyminster?
Und, wie so oft, wenn man in der Klemme steckt, fiel mir auch gleich die Lösung ein.
Ich schlüpfte in den schimmligen Talar, drückte das zerbeulte Barett einigermaßen zurecht, setzte es auf und flatterte wie eine große schwarze Fledermaus das Labyrinth wackliger Leitern hinunter, bis ich wieder vor der verschlossenen Tür stand.
Der Dietrich, den ich aus meiner Zahnklammer gebogen hatte, musste seine Dienste noch einmal verrichten, und als ich den Draht in das Schlüsselloch steckte, richtete ich ein stummes Stoßgebet an den Gott, der für derlei Dinge zuständig sein mochte.
Nach einigem Herumstochern, einem verbogenen Draht und etlichen mäßig derben Flüchen wurde mein Gebet schließlich erhört, und der Riegel rührte sich mit mürrischem Ächzen.
Ehe ich »Los!« sagen konnte, war ich die Wendeltreppe hinunter, lauschte an der unteren Tür und linste durch einen Spalt in den langen Korridor. Der lag leer und schweigend da.
Ich schob vorsichtig die Tür auf, schlüpfte aus dem Treppenhaus, marschierte forschen Schrittes an der Galerie der vermissten
Draußen wimmelte es von Schülern, die miteinander schwatzten, herumlümmelten, umherschlenderten und Unfug trieben. Jetzt, da die Ferien zum Greifen nah waren, genossen sie die vorübergehende Freiheit der Pausen.
Instinktiv nahm ich mit meinem Barett und dem Umhang eine gebückte Haltung ein und stahl mich über den Hof. Ob ich wohl auffallen würde? Selbstverständlich - für die wölfischen Schuljungen musste ich so etwas wie das verletzte Rentier am Schluss der Herde sein.
Von wegen! Ich nahm die Schultern zurück und stürmte wie ein Schüler, der zu spät zum Hürdenlauf kommt, hoch erhobenen Kopfes in Richtung Straße davon. Hoffentlich fiel niemandem auf, dass ich unter dem Talar ein Kleid trug.
Nein, niemand drehte auch nur den Kopf nach mir um.
Je weiter ich den Pausenhof hinter mir ließ, desto sicherer fühlte ich mich, aber mir war klar, dass ich in offenem Gelände noch viel verdächtiger aussehen musste.
Direkt vor mir stand eine uralte Eiche gemütlich mitten auf dem Rasen, als stünde sie dort schon seit den Tagen Robin Hoods. Als ich anschlagen wollte (Frei!), schoss urplötzlich ein Arm hinter dem Stamm hervor und packte mich am Handgelenk.
»Aua! Lass mich los! Du tust mir weh!«, entfuhr es mir, worauf ich, noch ehe ich mich richtig umgedreht hatte, ebenso urplötzlich wieder losgelassen wurde.
Es war Detective Sergeant Graves, der mindestens genauso verdutzt aus der Wäsche schaute wie ich.
»Wen haben wir denn da?«, fragte er, und ein Grinsen flog über sein Gesicht. »Wen haben wir denn da?«
Ich wollte eine bissige Bemerkung loslassen, verkniff sie mir aber. Ich wusste, dass der Sergeant mich mochte, und ich hatte so eine Ahnung, dass ich schon bald jede Unterstützung würde gebrauchen können.
»Der Inspektor hat Sehnsucht nach dir«, verkündete der Sergeant und deutete auf eine kleine Schar Leute, die palavernd auf der Straße neben Gladys standen.
Das war alles, was er sagte, aber als wir uns dem Grüppchen näherten, schob er mich sanft vor sich her auf Inspektor Hewitt zu, wie ein freundlicher Terrier, der seinem Herrchen eine tote Ratte präsentiert. Meine abgerissene Schuhsohle flappte wie bei Charlie Chaplins kleinem Tramp, aber obwohl der Inspektor einen flüchtigen Blick darauf warf, war er klug genug, seine Gedanken für sich zu behalten.
Neben dem blauen Vauxhall stand der lange Sergeant Woolmer. Sein Gesicht war breit und zerklüftet wie das Matterhorn. In seinem Schatten stand ein sehniger, sonnengebräunter Mann in einem Overall sowie ein Hutzelmännlein mit weißem Schnurrbart, das, kaum, dass es mich erblickte, aufgeregt mit dem Finger auf mich zeigte.
»Das ist er!«, sagte er. »Der war’s!«
»Ach ja?« Inspektor Hewitt nahm mir das Barett ab und streifte mir ehrerbietig wie ein Kammerdiener den Talar von den Schultern.
Das Männlein machte Stielaugen.
»Herrje«, brummte es enttäuscht. »Das ist ja bloß ein Mädchen!«
Ich hätte ihm am liebsten eine runtergehauen.
»Ja, die isses!«, sagte der Gebräunte.
»Mr Ruggles hat Grund zu der Annahme, dass du oben auf dem Turm warst.« Der Inspektor nickte dem Schnurrbärtigen zu.
»Und wenn schon«, erwiderte ich. »Ich hab mich nur mal umgesehen.«
»Der Zutritt zum Turm ist streng verboten«, verkündete Mr Ruggles nachdrücklich. »Verboten! So steht es auch auf dem Schild. Kannst du nicht lesen?«
Ich zuckte anmutig die Achseln.
»Wenn ich gewusst hätte, dass du bloß ein Mädchen bist, wär ich auch noch die Leitern hochgekraxelt.« An den Inspektor gewandt fügte er hinzu: »Dabei sind meine Knie auch nicht mehr das, was sie mal waren.«
Er drehte sich wieder zu mir um: »Ich wusste, dass du da oben bist, hab aber so getan, als hätt ich nix gesehen, und lieber die Polizei gerufen. Und tu bloß nicht so, als hättest du das Schloss nicht geknackt. Für das Schloss bin ich verantwortlich, und ich weiß genau, dass es abgesperrt war, so wahr ich hier in Fludd’s Lane stehe! Also so was! Ein Mädchen! Ts ts ts!«, brummelte er und schüttelte ungläubig den Kopf.
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