»Du hast also das Schloss geknackt?«, fragte mich der Inspektor. Er wollte sich nichts anmerken lassen, aber ich spürte sehr wohl, dass er ziemlich überrascht war. »Wo hast du das denn gelernt?«
Das konnte ich ihm natürlich nicht verraten. Dogger musste unter allen Umständen gedeckt werden.
»Ach, irgendwo und irgendwann«, antwortete ich.
Der Inspektor musterte mich mit einem durchbohrenden Blick. »Manche Leute würden sich mit einer solchen Antwort zufrieden geben, Flavia, ich nicht.«
Jetzt kommt gleich wieder der »König-Georg-ist-kein-alberner-Mensch«-Spruch, dachte ich, aber Inspektor Hewitt hatte offenbar beschlossen, auf eine Erwiderung meinerseits zu warten, egal wie lange es dauern mochte.
»Auf Buckshaw ist nicht viel los«, sagte ich. »Da probiere ich manchmal irgendwas aus, damit mir nicht langweilig wird.«
Er hielt mir den schwarzen Talar und das Barett hin. »Darum läufst du wohl auch in diesem Kostüm herum. Damit dir nicht langweilig wird.«
»Das ist kein Kostüm. Wenn es Sie interessiert: Ich habe die Sachen unter einem losen Ziegel auf dem Turmdach gefunden. Sie haben irgendetwas mit Mr Twinings Tod zu tun, das steht fest.«
Hatte Mr Ruggles vorher schon Stielaugen gemacht, schienen sie ihm jetzt schier aus dem Kopf zu fallen.
»Mr Twining?«, sagte er. »Der Mr Twining, der damals vom Turm gesprungen ist?«
»Mr Twining ist nicht gesprungen«, widersprach ich. Ich konnte der Versuchung nicht widerstehen, es dem grässlichen Hutzelzwerg heimzuzahlen. »Er wurde …«
»Danke, Flavia«, fiel mir Inspektor Hewitt ins Wort, »das reicht. Aber wir wollen Ihre Zeit nicht noch länger in Anspruch nehmen, Mr Ruggles. Sie sind ja ein vielbeschäftigter Mann.«
Ruggles plusterte sich auf wie ein balzender Täuberich, nickte dem Inspektor zu, bedachte mich mit einem unverschämten Feixen und stapfte davon.
»Vielen Dank, dass Sie uns verständigt haben, Mr Plover«, wandte sich der Inspektor jetzt dem Mann im Overall zu, der schweigend dabei gestanden hatte.
Mr Plover zupfte an seiner Haartolle und ging wortlos zu seinem Traktor.
»Unsere großen Privatschulen sind kleine wehrhafte Städte für sich«, erklärte der Inspektor mit ausholender Gebärde. »Als du in die Zufahrt eingebogen bist, hat Mr Plover dich als unbefugten Eindringling erkannt und ist sogleich zur Pförtnerloge gelaufen.«
Verflucht sei Mr Plover! Und der alte Ruggles gleich mit! Wenn ich wieder zu Hause war, durfte ich nicht vergessen, den beiden einen Krug rosa Limonade zu schicken, nur um zu zeigen, dass ich nicht nachtragend war. Für Anemonen war es leider schon zu spät im Jahr, weshalb anemonin nicht infrage kam. Tollkirschen dagegen waren vereinzelt noch zu finden, wenn man wusste, wo man zu suchen hatte.
Inspektor Hewitt überreichte Sergeant Graves, der schon mehrere Bögen Seidenpapier aus seiner Tasche geholt hatte, Barett und Talar.
»Prima!«, sagte der Sergeant. »Damit hat uns die Kleine abgenommen, über das Dach zu robben.«
Der Inspektor warf ihm einen Blick zu, der einen durchgegangenen Gaul zum Stehen gebracht hätte.
»’tschuldigung, Sir«, sagte der Sergeant mit puterrotem Gesicht und wickelte die Kleidungsstücke sorgfältig ein.
»Jetzt erzähl mir bitte mal ganz ausführlich, wie du die Sachen entdeckt hast«, sagte Inspektor Hewitt, als wäre nichts vorgefallen. »Lass aber nichts aus, und dichte auch nichts dazu.«
Alles, was ich sagte, notierte er sich mit seiner flinken, mikroskopisch kleinen Handschrift. Da ich Feely beim Frühstück immer gegenübersaß, während sie ihr Tagebuch schrieb, war ich darin geübt, auf dem Kopf zu lesen, aber Inspektor Hewitts Zeilen glichen über die Seite krabbelnden Ameisenkolonnen.
Ich erzählte ihm alles haarklein: von den knarrenden Leitern bis zu meinem beinahe tödlichen Sturz, vom losen Dachziegel bis zu dem, was sich darunter verborgen hatte, bis hin zu meiner genialen Flucht.
Als ich fertig war, kritzelte er noch irgendwelche Zeichen neben meinen Bericht, deren Bedeutung ich leider nicht mal erahnen konnte, dann klappte er sein Büchlein zu.
»Vielen Dank, Flavia. Damit hast du uns sehr geholfen.«
Zumindest besaß er den Anstand, es zuzugeben. Ich stand erwartungsvoll vor ihm.
»Leider sind König Georgs Schatztruhen nicht tief genug, um dich innerhalb von vierundzwanzig Stunden zweimal nach Hause zu chauffieren«, sagte er. »Aber wir warten noch, bis du losgeradelt bist.«
»Soll ich Ihnen wieder Tee bestellen?«, fragte ich keck.
Er stand einfach da, mit beiden Beinen fest im Gras. Seinen Gesichtsausdruck konnte ich nicht deuten.
Kurz darauf summten Gladys’ Dunlop-Reifen munter über die Seinen , wie sich Daffy ausgedrückt hätte, blieben immer weiter zurück.
Noch ehe ich eine Viertelmeile zurückgelegt hatte, überholte mich der blaue Vauxhall. Als er an mir vorbeifuhr, winkte ich wie verrückt, aber die Insassen hinter den Fenstern verzogen keine Miene.
Hundert Meter weiter vorn leuchteten die Bremslichter auf, und der Wagen hielt auf dem Seitenstreifen. Als ich angeradelt kam, kurbelte der Inspektor das Seitenfenster herunter.
»Wir fahren dich nach Hause. Sergeant Graves packt dein Fahrrad in den Kofferraum.«
»Hat König Georg es sich anders überlegt, Herr Inspektor?«
Er sah mich mit einem Gesichtsausdruck an, den ich bislang noch nicht bei ihm gesehen hatte. Blickte er etwa sorgenvoll drein?
»Nein. König Georg hat es sich nicht anders überlegt. Aber ich. «
Ich möchte nicht übertreiben, aber in jener Nacht schlief ich den Schlaf der Verdammten. Ich träumte von Zinnen und losen Ziegeln, um die der Regen peitschte, und wo der Wind den Duft von Veilchen vom Meer heranwehte. Eine bleiche Frau in altmodischer Tracht stand an meinem Bett und raunte mir ins Ohr, die Glocken würden läuten. Ein alter Seebär im Ölzeug hockte auf einem Pfahl und flickte mit einer Ahle seine Netze, während hinter ihm, weit draußen über dem Meer, ein kleines Flugzeug der untergehenden Sonne entgegenflog.
Als ich endlich aufwachte, strahlte die Sonne durchs Fenster, und ich war schauderhaft erkältet. Noch ehe ich zum Frühstück hinunterging, hatte ich alle Taschentücher aus meiner Nachttischschublade verbraucht und ein noch fast neues Badehandtuch ruiniert. Ich muss wohl nicht erklären, weshalb meine Laune nicht die allerbeste war.
»Komm mir bloß nicht zu nahe!«, sagte Feely, als ich schnaufend wie ein Nilpferd ans andere Ende des Tisches wankte.
»Stirb, Hexe!«, brachte ich gerade noch heraus und machte das Zeichen gegen den bösen Blick.
»Flavia!«
Ich stocherte in meinen Frühstücksflocken mit Milch herum und rührte sie mit einer Ecke meines Toasts um. Aber statt dass die verbrannte Kruste das Ganze ein wenig gewürzt hätte, schmeckte die teigige Pampe immer noch wie Pappendeckel.
Dann gab es auf einmal einen Ruck, und ich fiel in einen anderen Bewusstseinszustand, wie bei einer schlampig geklebten Filmrolle. Ich war am Tisch eingeschlafen.
»Was ist denn mit dir los?«, hörte ich Feely fragen.
»Ein lähmender Schlummer hat sich ihrer bemächtigt, so geschwächt ist sie von ihren gestrigen Ausschweifungen«, warf Daffy ein.
Daffy las nämlich gerade Bulwer-Lyttons Pelham, immer ein paar Seiten als Abendlektüre, und bis sie damit durch war, wurden wir tagtäglich mit absurden Kostproben eines Prosastils gequält, der steif wie ein Ladestock war.
Zumindest das mit dem »gestrig« stimmte, darum nickte ich bestätigend. Plötzlich sprang Feely erschrocken auf.
»Großer Gott!«, rief sie und schlug ihren Morgenmantel wie ein Leichentuch um sich. »Wer in aller Welt ist das?«
Jemand, von dem nur der Umriss zu erkennen war, hatte die gewölbten Hände an die Terrassentür gelegt und spähte zu uns herein.
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