Ich lehnte Gladys in einem kleinen Seitenweg, durch den ich auf das Gelände gelangt war, an einen Baum. Hinter einer Hecke tuckerte ein Traktor im Leerlauf, der Fahrer war nirgends zu sehen.
Aus der Kapelle wehten die Stimmen eines Knabenchors heran, der trotz des strahlenden Morgens sang:
Hinunter ist der Sonnen Schein,
Die finstre Nacht bricht stark herein.
Ich hörte ein paar Sekunden zu, dann brach der Gesang plötzlich ab. Nach einer kurzen Pause setzte die quäkende Orgel wieder ein, und die Sänger fingen noch einmal von vorn an.
Als ich langsam über die Wiese ging, die Vater bestimmt »das Viereck« genannt hätte, starrten die hohen Fenster des Schulgebäudes ausdruckslos und abweisend auf mich herab. Ich kam mir auf einmal wie ein Insekt unter einem Mikroskop
Mit Ausnahme eines einzelnen Schuljungen, der um eine Ecke gerannt kam, und zwei Lehrern in schwarzen Talaren, die im Gehen plaudernd die Köpfe zusammensteckten, waren die großen Rasenflächen und die sich dazwischen einherschlängelnden Wege von Greyminster leer. Der Himmel leuchtete so blau, dass das Ganze fast unwirklich aussah, wie eine hundertfach vergrößerte Agfacolor-Fotografie, eine Aufnahme, wie man sie in Büchern mit Titeln wie Malerisches Großbritannien fand.
Der Kalksteinkasten mit dem Glockenturm auf der Ostseite des Vierecks, dachte ich, muss Anson House sein, Vaters ehemalige Bude.
Die Sonne schien so gleißend, dass ich im Näherkommen die Hand schützend über die Augen an die Stirn legte. Von den Zinnen und Ziegeln dort oben musste Mr Twining damals in den Tod gesprungen sein, herab auf das uralte Pflaster, von dem ich kaum hundert Schritt entfernt stand.
Neugierig schlenderte ich hinüber.
Zu meiner Enttäuschung waren keine Blutflecke mehr zu erkennen. Selbstverständlich waren sie nach so langer Zeit längst verblasst. Außerdem hatte man gerade diese Blutflecken bestimmt unauffällig weggeschrubbt, noch ehe Mr Twinings zerschmetterter Leib zu dem gebettet worden war, was man »die ewige Ruhe« nannte.
Bis auf die Spuren von zweihundert Jahren Abnutzung durch die Schuhsohlen privilegierter Schüler und Lehrer hatten die Pflastersteine nichts zu erzählen. Der dicht an der Hauswand entlangführende Weg war keine zwei Meter breit.
Ich legte den Kopf in den Nacken und schaute am Turm empor. Aus diesem Blickwinkel ragte die steile Mauer schwindelerregend hoch auf, und oben wurde sie von zierlichen Ornamenten gekrönt. Weiße Wolken zogen bedächtig über die
Ausgetretene Stufen führten von dem gepflasterten Weg verlockend unter einem Steinbogen hindurch zu einer Flügeltür. Links von mir befand sich die Pförtnerloge, deren Insasse über das Telefon gebeugt war und nicht mal aufblickte, als ich an ihm vorbeihuschte.
Ein kühler, gefliester, schummriger Korridor schien ins Unendliche zu führen. Ich marschierte tapfer drauflos, wobei ich Acht gab, nicht mit den Füßen zu schlurfen.
An einer Wand hing eine endlose Galerie lächelnder Porträts: Manche zeigten Schüler, andere Lehrer, aber alle hatten sie einst in Greyminster gelernt oder gelehrt, und sie hatten ihr Leben fürs Vaterland gelassen. Sie hingen einzeln in schwarz lackierten Rahmen, auf deren Unterkante in einem vergoldeten Schriftband zu lesen stand: »Damit andere leben dürfen«. Am Ende des Korridors hingen, von den anderen Bildern ein wenig abgesetzt, die Fotos dreier Jungen, deren Namen mit roter Schrift auf kleine, viereckige Messingplaketten graviert waren. Unter jedem Namen stand: »Vermisst.«
Vermisst? Warum hing Vaters Bild nicht auch hier?
Vater war für gewöhnlich so abwesend, dass er genauso gut als »vermisst« hätte gelten können wie diese jungen Männer, deren Gebeine irgendwo in Frankreich lagen. Bei diesem Gedanken verspürte ich zwar einen Anflug von schlechtem Gewissen, aber es stimmte dennoch.
Ich glaube, es war dort, in dem düsteren Flur in Vaters ehemaligem Internat, dass mir so richtig bewusst wurde, wie ungeheuer verschlossen Vater eigentlich war. Gestern hätte ich ihn liebend gern umarmt und so fest gedrückt, dass ihm die Luft weggeblieben wäre. Jetzt jedoch begriff ich, dass die trauliche mir anvertraut, sondern Harriet, und wie bei dem sterbenden Horace Bonepenny war ich nicht mehr als ein zufälliger Beichtvater gewesen.
Jetzt, hier in Greyminster, an jenem Ort, an dem Vaters Kummer seinen Anfang genommen hatte, kam mir diese Umgebung umso kälter, abweisender und ungastlicher vor.
Hinter den Fotos führte eine Treppe in den ersten Stock. Ich ging hinauf und stand im nächsten langen Flur, der sich wie der im Erdgeschoss über die ganze Länge des Gebäudes erstreckte. Obwohl die Türen zu beiden Seiten geschlossen waren, konnte man durch kleine Scheiben einen Blick in die Räume dahinter werfen. Es waren lauter Klassenzimmer, und sie sahen alle gleich aus.
Das große Eckzimmer am Ende des Korridors sah da schon vielversprechender aus. Auf dem Schild an der Tür stand: Chemieraum.
Ich drückte auf die Klinke, und die Tür ging sofort auf. Der böse Bann war gebrochen!
Ich weiß nicht, was ich erwartet hatte, aber das jedenfalls nicht: fleckige Holztische, nichtssagende Bechergläser, blinde Destillierkolben, angestoßene Reagenzgläser, verschmutzte Bunsenbrenner und an der Wand eine bunte Tabelle mit den Elementen und einem blödsinnigen Druckfehler, durch den Arsen und Selen vertauscht waren. Es fiel mir sofort auf. Darum holte ich ein Stück blaue Kreide von der Tafelablage und nahm mir die Freiheit, den Fehler zu korrigieren, indem ich einen Pfeil malte, der in zwei Richtungen zeigte. »Falsch!« , schrieb ich darunter und unterstrich es zweimal.
Das sogenannte Labor war ein Witz im Vergleich zu dem, was mir auf Buckshaw zur Verfügung stand. Ein Gedanke, bei dem mir vor Stolz die Brust schwoll. Am liebsten wäre ich auf der Stelle nach Hause geradelt, um mich an meinem Labor zu
Aber diese Freuden mussten warten. Ich hatte hier noch einiges zu erledigen.
Ich verließ das Labor und ging den Flur wieder zurück, bis ich ungefähr in der Mitte angelangt war. Wenn ich mich nicht irrte, musste ich mich hier direkt unter dem Turm befinden. Von hier aus musste es einfach einen Zugang geben.
Eine kleine Tür in der Holzvertäfelung, hinter der ich zuerst eine Besenkammer vermutet hatte, gab den Weg zu einer Treppe frei. Mein Herz schlug höher.
Dann sah ich das Schild. Auf Höhe der ersten Stufen war eine Kette quer über die Treppe gespannt. Daran hing ein handbeschriftetes Pappschild mit dem Hinweis: Zutritt zum Turm strengstens verboten.
Ich duckte mich blitzschnell darunter hindurch.
Es war wie im Gehäuse eines Einsiedlerkrebses. Die Treppe vollführte eine enge, eintönige Windung nach der anderen. Weder sah man, was vor einem, noch was hinter einem lag, man konnte immer nur die paar Stufen gleich über und unter sich erkennen.
Eine Zeit lang zählte ich flüsternd mit, aber irgendwann sah ich ein, dass ich meine Puste brauchte, um meine Beine mit Sauerstoff zu versorgen. Es ging steil aufwärts, und bald bekam ich Seitenstechen. Darum legte ich eine kurze Verschnaufpause ein.
Nur durch die kleinen Fensterschlitze, die jeweils auf einer vollen Wendelung der Treppe angebracht waren, fiel spärliches Licht. Auf dieser Seite des Turmes vermutete ich auch den Innenhof. Immer noch halbwegs außer Puste, nahm ich mein Gekraxel wieder auf.
Dann war die Treppe unvermittelt zu Ende, und zwar vor einer niedrigen, halbrunden Tür.
Ich dachte unwillkürlich an die kleinen Türen im Märchen,
Ich schnaufte enttäuscht und hockte mich schwer atmend auf die oberste Stufe.
»Verflixt und zugenäht!«, fluchte ich. Es hallte erschreckend laut durch das Treppenhaus.
»Heda!«, ertönte ein dumpfer Ruf, und ich hörte jemanden die Treppe hochstapfen.
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