Ich hatte festgestellt, dass eine Lüge, wenn man sie in möglichst viele Einzelheiten verpackt, besser rutscht, so, wie man kranken Pferden ihre Tablette in einen Apfel steckt. Diesmal merkte ich jedoch, kaum dass ich es ausgesprochen hatte, dass ich zu weit gegangen war.
»Ha, Flavia!«, sagte Ned. »Du willst dich bloß über mich lustig machen.«
Ich schenkte ihm mein bestes Spätzünder-Landei-Lächeln. »Du hast mich ertappt, Ned«, erwiderte ich. »Schuldig im Sinne der Anklage.«
Er revanchierte sich mit einem schiefen Abbild meines Grinsens. Ich argwöhnte schon, er wollte mich nachäffen, und mir kam die Galle hoch, doch dann begriff ich, dass er sich ehrlich freute, mich durchschaut zu haben. Das war die Gelegenheit!
»Du, Ned«, sagte ich, »würdest du mir antworten, wenn ich dir eine ungeheuer persönliche Frage stellen würde?«
Ich wartete, bis mein Ansinnen bei ihm angekommen war. Mit Ned zu kommunizieren war in etwa so, als wechselte man Telegramme mit einem mongolischen Leseanfänger.
»Ich würd’ schon antworten«, erwiderte er schließlich. Das verschlagene Glitzern in seinen Augen verriet, was er gleich hinzufügen würde: »Aber ich würd vielleicht nicht ehrlich sein, ist doch klar.«
Nachdem wir darüber tüchtig gelacht hatten, kam ich zur Sache. Ich fuhr gleich die ganz schweren Geschütze auf.
»Du bist doch superscharf auf Ophelia, stimmt’s?«
Ned steckte nachdenklich die Zunge in die Backe und fuhr sich mit dem Finger um den Hals unter dem Hemdkragen.
»Deine Schwester ist’n echt nettes Mädchen, das steht mal fest.«
»Würdest du dich nicht gern eines Tages mit ihr in einem hübschen strohgedeckten Häuschen niederlassen wollen und einen Stall voll Kinder aufziehen?«
Inzwischen glich Neds Hals einer Säule aufsteigender Röte wie ein dickes Alkoholthermometer. Im Handumdrehen sah er aus wie einer jener Vögel, die bei der Balz den Kropf aufplustern. Ich erbarmte mich seiner.
»Nur mal angenommen, sie würde sich gern mit dir treffen, aber ihr Vater würde das nicht erlauben. Nur mal angenommen, eine ihrer Schwestern könnte euch ein wenig behilflich sein.«
Sein roter Kropf wurde schon flacher. Er kämpfte mit den Tränen.
»Ist das dein Ernst, Flavia?«
»Großes Indianerehrenwort.«
Ned hielt mir die schwieligen Finger hin und schüttelte mir verblüffend sanft die Hand. Ich kam mir vor, als hätte ich einer Ananas die Hand gegeben.
»Hand gegeben, Brüder fürs Leben«, verkündete er, was immer das heißen sollte.
Hand gegeben, Brüder fürs Leben? Hatte ich eben den geheimen Handschlag irgendeiner bäuerlichen Bruderschaft empfangen, die sich bei Mondschein auf Friedhöfen und in verschwiegenen Wäldchen traf? War ich nunmehr offiziell aufgenommen und musste künftig an unaussprechlich blutigen mitternächtlichen Zeremonien in Wiesen und Feldern teilnehmen? Nicht die schlechteste Aussicht, wie ich fand.
Ned grinste mich an wie der Totenschädel auf einer Piratenflagge. Ich bekam wieder Oberwasser.
»Also aufgepasst!«, sagte ich. »Erste Lektion: Niemals tote Vögel vor die Tür legen. Das machen nur liebeskranke Kater.«
Ned machte ein verständnisloses Gesicht.
»Ich hab bloß ein-, zweimal Blumen hingelegt, damit Ophelia
»Aber tote Vögel? Noch nie. Du kennst mich doch, Flavia. So was würd’ ich nie machen.«
Ich überlegte kurz und kam zu dem Schluss, dass er Recht hatte. Es passte nicht zu ihm. Meine nächste Frage stellte sich jedoch als echter Glückstreffer heraus.
»Weiß Mary Stoker eigentlich, dass du in Ophelia verschossen bist?« Den Ausdruck hatte ich aus irgendeinem amerikanischen Kinofilm, aus Heimweh nach St. Louis oder Vier Schwestern, und endlich hatte ich mal Gelegenheit, ihn anzubringen. Wie Daphne prägte ich mir bestimmte Ausdrücke und Redewendungen ein, benötigte allerdings kein Kontobuch, um sie mir aufzuschreiben.
»Was hat denn Mary damit zu tun? Sie ist Tullys Tochter, und damit hat sich’s.«
»Komm schon, Ned, ich hab genau gesehen, wie ihr euch heute Vormittag geküsst habt, als ich … zufällig vorbeikam.«
»Ich wollte sie bloß’n bissel trösten. Mehr war nicht.«
»Weil irgendwer sie von hinten überrascht hatte?«
Ned sprang auf. »Du blöde …!«, rief er. »Das soll keiner wissen!«
»Als sie seine Bettwäsche gewechselt hat?«
»Du bist eine Hexe, Flavia de Luce!«, brüllte Ned. »Hau ab! Fahr heim!«
»Erzähl’s ihr ruhig, Ned«, sagte da jemand leise. Als ich mich umdrehte, stand Mary in der Tür.
Mit einer Hand stützte sie sich am Türrahmen ab, mit der anderen fasste sie sich an den Kragen wie Tess von den d’Urbervilles leibhaftig. Von Nahem sah man, dass sie grobe, rot aufgesprungene Hände hatte und fürchterlich schielte.
»Erzähl’s ihr ruhig«, wiederholte sie. »Jetzt isses sowieso egal, oder?«
Ich merkte sofort, dass sie mich nicht leiden konnte. Das ist nämlich ein weiblicher Urinstinkt, dass ein Mädchen sofort merkt, ob ein anderes Mädchen es leiden kann oder nicht. Feely behauptet, im Gegensatz dazu sei zwischen Männern und Frauen die Telefonverbindung unterbrochen, und man wisse nie, wer von beiden aufgelegt hätte. Bei einem Jungen wüsste man nie, ob er in einen verknallt ist oder einen nur veräppeln will; wie ein Mädchen einen findet, weiß man nach drei Sekunden. Zwischen Mädchen gibt es einen unaufhörlichen Strom unhörbarer und unsichtbarer Signale, wie die Hochfrequenzradiosignale zwischen Schiffen auf hoher See und der Küste, und diese geheime Abfolge von Punkten und Strichen signalisierte mir, dass Mary mich nicht leiden konnte.
»Na los, erzähl’s ihr!«, forderte Mary ihn auf.
Ned schluckte schwer und klappte den Mund auf, aber kein Laut kam heraus.
»Du bist doch Flavia de Luce, oder?«, fragte Mary. »Eine von denen oben aus Buckshaw.« Sie schleuderte es mir wie eine Torte ins Gesicht.
Ich nickte brav, als wäre ich ein vernachlässigter adliger Inzuchtbalg, der ein bisschen liebgehabt werden muss. Lieber mitspielen, dachte ich.
»Dann komm mal mit!« Mary winkte mich heran. »Aber beeil dich - und sei ja leise!«
Ich folgte ihr in eine dunkle gemauerte Speisekammer aus Stein und eine gezimmerte, steile Treppe hinauf. Oben huschten wir in eine Art Wäschekammer, eine Art hohen Wandschrank, in dem inzwischen Regale mit Putzmitteln, Seife und Bohnerwachs standen. In der Ecke lehnten kreuz und quer mehrere Aufnehmer und Besen, und es stank betäubend nach Karbol.
»Pst!« Mary kniff mich fest in den Arm. Schwere Schritte
»Der Tag wird kommen, an dem ein Cotswold-Pferd die Siegerprämie einheimst. An deiner Stelle würde ich ein paar Kröten auf Seastar setzen, und scheiß auf die Tipps, die dir irgendwelche Londoner Angeber aufschwatzen wollen. Die können doch alle ihren Arsch nicht von ihrem Ellenbogen unterscheiden!«
Das war Tully, der mit irgendwem Wetttipps austauschte, und das in so vertraulichem Ton, dass man ihn noch in Epsom Downs hören konnte. Die leise Erwiderung auf seine kleine Ansprache endete in »Har-Har!«, dann verklangen die Schritte in dem Labyrinth holzgetäfelter Flure. »Hier lang«, zischelte Mary und zog mich am Ärmel. Wir bogen in einen engen Gang ab. Mary holte einen Schlüsselbund aus der Tasche und schloss geräuschlos die letzte Tür links auf.
Wir standen in einem Zimmer, das sich seit 1592, als Königin Elisabeth Bishop’s Lacey auf einer ihrer Sommer reisen durchs Land besuchte, nicht wesentlich verändert hatte. Balkendecke, Stuckpaneele, ein winziges, bleiverglastes Fenster, das zum Lüften offen stand, und breite Dielen, die sich wie ein sanft wogendes Meer wellten - so mein erster Eindruck.
An einer Wand stand ein lädierter Tisch mit dem ABC Zugfahrplan (Oktober 1946) unter dem einen Bein, damit er nicht kippelte. Obendrauf standen und lagen ein nicht zueinanderpassendes Waschgeschirr aus Krug und Schüssel in Rosa und Blassgelb, ein Kamm, eine Bürste und ein kleines schwarzes Lederetui. In der Ecke neben dem offenen Fenster sah ich ein einzelnes Gepäckstück: ein billig aussehender Überseekoffer aus Vulkanfiber, der über und über mit bunten Aufklebern gepflastert war. Daneben stand ein einfacher Stuhl, dem in der Lehne eine Strebe fehlte. Auf der anderen Seite gab es einen
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