Andererseits - warum sollte ich die Marken eigentlich wieder zurücktun? Wenn Mr Sanders und die Leiche in unserem Garten, wie ja wohl inzwischen geklärt war, ein und dieselbe Person waren, brauchte der gute Mann jetzt keine Briefmarken mehr.
Nein, dachte ich, die behalte ich! Irgendwann kommen sie mir bestimmt mal sehr gelegen, wenn ich etwas angestellt habe und Vater besänftigen muss, denn Vater ist nicht in der Lage,
Ich steckte den Umschlag mit den Marken ein, leckte meinen Zeigefinger an, befeuchtete die Innenseite des Kofferaufklebers und bügelte ihn mit dem Daumen wieder fest. Nicht einmal Inspektor Fabian von Scotland Yard würde auf den Gedanken verfallen, dass jemand den Aufkleber aufgeschlitzt hatte.
Zeit, zu verschwinden. Ich sah mich ein letztes Mal im Zimmer um, schlich in den schummrigen Flur hinaus und strebte, wie Mary mich angewiesen hatte, auf die Hintertreppe zu.
»Du bist so unnütz wie Strumpfhosen für’nen Stier, Mary! Wie zum Teufel sollen wir je auf einen grünen Zweig kommen, wenn du die Papierkörbe dermaßen versaubeuteln lässt?«
Tully kam die Hintertreppe hoch. Noch eine Treppenbiegung und wir würden uns Auge in Auge gegenüberstehen!
Ich huschte auf Zehenspitzen in die entgegengesetzte Richtung durch den Irrgarten der Korridore: hier zwei Stufen hoch, dort zwei runter. Dann stand ich keuchend am oberen Ende einer L-förmigen Treppe, die zum Vordereingang hinunterführte. Soweit ich es erkennen konnte, hielt sich dort unten niemand auf.
Ich trippelte die Treppe auf Zehenspitzen hinunter, immer ein Schrittchen nach dem anderen.
Ein langer, mit dunklen, stockfleckigen Jagdstichen gepflasterter Flur diente als Empfangshalle. Der jahrhundertealte Geruch von geräucherten Heringen tränkte die Tapeten. Nur der Fleck Sonnenschein, der durch die offene Haustür hereinfiel, belebte die Düsternis ein wenig.
Zu meiner Linken stand ein kleiner Schreibtisch mit einem Telefon, einem Telefonbuch, einer kleinen Glasvase mit roten und malvenfarbenen Stiefmütterchen und einem dicken, ledergebundenen Wälzer. Das Gästebuch!
Offensichtlich ging es im Dreizehn Erpel nicht eben zu wie im Taubenschlag. Die aufgeschlagenen Seiten enthielten die
Da stand es:
2. Juni, 10.25 Uhr, F. X. Sanders, London
Kein anderer Gast war verzeichnet, weder am Tag davor noch am heutigen Tag.
Aber London? Inspektor Hewitt hatte doch gemeint, der Verstorbene sei aus Norwegen gekommen, und Inspektor Hewitt sagte nun ganz gewiss nicht etwas einfach nur so dahin, darin glich er König Georg.
Obwohl … genau genommen hatte der Inspektor gesagt, der Verstorbene sei kürzlich aus Norwegen gekommen, und das war ja nun eine ganz andere Kiste.
Doch ehe ich weiter überlegen konnte, erscholl von oben ein Scheppern. Tully mal wieder, der allgegenwärtige Tully! Man hörte an seinem Ton, dass er Mary immer noch auszankte.
»Gaff mich nicht so an, Mädel, sonst geb ich dir gleich Grund zum Gaffen.«
Und jetzt kam er auch noch die Vordertreppe heruntergepoltert! Gleich würde er mich erblicken. Doch als ich eben zur Tür hinausstürmen wollte, hielt ein verbeultes schwarzes Taxi vor dem Wirtshaus. Gepäckstücke stapelten sich auf dem Dach, aus einem Fenster ragte das Holzgestell eines Fotografenstativs.
Das lenkte Tully für einen Augenblick ab.
»Da kommt Mr Pemberton«, tuschelte er vernehmlich. »Er ist früh dran. Jetzt aber los, Mädel, ich hab es dir doch angekündigt! Beweg dich und bring die schmutzige Wäsche weg, und ich geh rasch Ned holen.«
Ich flitzte los! Vorbei an den Jagdstichen, quer durch die düstere Halle und in den Hinterhof hinaus.
»Ned! Komm, Mr Pembertons Gepäck holen!«
Tully war mir dicht auf den Fersen. Obwohl mich das grelle Sonnenlicht blendete, konnte ich Ned nirgends sehen. Offenbar hatte er den Käse vom Laster geladen und widmete sich jetzt anderen Aufgaben.
Ohne lange nachzudenken, sprang ich auf die Ladefläche des Lasters und duckte mich hinter die aufgestapelten Käselaibe.
Als ich zwischen den Säulen hervorspähte, sah ich Tully in den Hof marschieren. Er sah sich um und trocknete sich das rote Gesicht mit der Schürze ab. Er hatte sich für den Thekendienst umgezogen. Demnach war die Schankstube geöffnet.
»Ned!«, brüllte Tully.
Von dort, wo er in der hellen Sonne stand, konnte er mich in dem dunklen Laderaum nicht erkennen. Ich brauchte nur zu bleiben, wo ich war, und mich ruhig zu verhalten.
Doch da gesellten sich noch zwei weitere Stimmen zu Tullys Gebrüll.
»Vergelt’s Gott, Tully«, ließ sich die eine vernehmen. »Und schönen Dank auch für den Schoppen!«
»Mach’s gut, Kumpel«, ließ die andere verlauten. »Wir sehen uns dann am Sonntag.«
»Sag George, er kann ruhig sein letztes Hemd auf Seastar setzen. Aber bloß nicht das vorletzte!«
Das war nur einer der blöden Sprüche, wie Männer sie oft sagen, um das letzte Wort zu haben. Es war überhaupt nicht lustig; trotzdem lachten alle drei und klopften sich vermutlich auf die Schenkel, und dann spürte ich den Laster schon schwanken, als die beiden Männer in die Fahrerkabine kletterten. Der Motor sprang stotternd an, und wir fuhren los - rückwärts.
Tully winkte uns nach links und dann wieder nach rechts und zeigte mit den Händen den Abstand zwischen Heckklappe und Hausmauer an. Wenn ich jetzt hinausgesprungen wäre, wäre ich geradewegs in seinen ausgebreiteten Armen gelandet.
Als Letztes sah ich Tully wieder zur Tür gehen - und Gladys, die noch an dem Bauholzstapel lehnte.
Der Laster bog scharf um die Kurve und beschleunigte. Ich bekam einen Laib Wensleydale auf die Birne, und der Käse und ich schlitterten über die raue Ladefläche. Als ich mich wieder aufgerappelt hatte, verschwamm die Hauptstraße hinter uns auch schon in einer Schliere aus grünen Hecken, und Bishop’s Lacey verschwand in der Ferne.
Jetzt ist es passiert, Flave, dachte ich. Vielleicht siehst du deine Familie nie wieder.
So verlockend mir diese Vorstellung zunächst erschien, so schnell wurde mir klar, dass mir Vater sehr wohl fehlen würde - jedenfalls ein bisschen. Ohne Ophelia und Daphne zu leben … daran würde ich mich bestimmt bald gewöhnen.
Bis dahin wäre Inspektor Hewitt natürlich zu dem Schluss gekommen, dass ich selbst den Mord begangen und die Flucht ergriffen hatte, um mich auf einem Seelenverkäufer nach Britisch Guayana durchzuschlagen. Er würde sämtliche Häfen in Alarmbereitschaft versetzen, damit man dort nach einer elfjährigen Mörderin mit Zöpfen und Trägerrock Ausschau hielt.
Wenn sie dann aber zwei und zwei zusammengezählt hatte, würde die Polizei ihre Spürhunde auf eine Flüchtige ansetzen, die nach »Omas handgemachtem Käse« roch. Deswegen würde ich den Geruch abspülen müssen, vielleicht in einem kleinen Wildbach, wo ich meine Kleider waschen und zum Trocknen auf einen Brombeerbusch hängen konnte. Natürlich würden sie Tully vernehmen, Ned und Mary ausquetschen, und im Handumdrehen daraufkommen, wie mir die Flucht aus dem Dreizehn Erpel gelungen war.
Die Dreizehn Erpel.
Wie kommt es bloß, überlegte ich, dass die Leute, die sich die Namen für Gasthäuser und Kneipen ausdenken, derart fantasielos Dreizehn Erpel hatten ihren Namen, wie mir Mrs Mullet einmal erzählt hatte, bereits im 18. Jahrhundert erhalten, und zwar von einem Besitzer, der einfach die zwölf anderen Erpel durchgezählt hatte, die es schon in den Nachbardörfern gab, und ihnen noch einen hinzugefügt hatte.
Warum konnte man ein Wirtshaus nicht nach etwas benennen, das einen praktischen Nutzen hatte? Wie wäre es mit: Die Dreizehn Kohlenstoffatome? Das wäre doch immerhin eine Eselsbrücke! Es gab dreizehn Kohlenstoffatome in Tricedyl, dessen Hydrid Sumpfgas war. Das wäre doch mal ein passender Name für eine Kneipe gewesen!
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