Nein, die Frage an Mrs Mullet würde ich auf den nächsten Tag verschieben müssen.
Ich holte einen Laib Brot aus der Speisekammer, schnitt eine dicke Scheibe ab, schmierte Butter drauf und streute eine dicke Schicht braunen Zucker drüber. Dann klappte ich das Brot zweimal zusammen und drückte es jedes Mal mit der flachen Hand fest zusammen. Anschließend schob ich das Ganze in den Backofen und ließ es so lange drin, wie es dauert, drei Strophen von dreimal »Backe, backe Kuchen« zu singen.
Es war zwar kein richtiges Rosinenhefebrötchen, aber es musste für diesen Abend genügen.
Obwohl wir de Luces schon Katholiken waren, seit Wagen rennen im Circus Maximus der letzte Schrei waren, hielt uns das nicht davon ab, St. Tankred zu besuchen, die einzige Kirche in Bishop’s Lacey und ein unerschütterliches Bollwerk der anglikanischen Kirche.
Für diese unsere Gunst gab es mehrere Gründe. Zum einen kam uns die räumliche Nähe und somit die bequeme Erreichbarkeit von St. Tankred entgegen, zum anderen waren sowohl Vater als auch der Vikar (wenn auch zu verschiedenen Zeiten) in Greyminster zur Schule gegangen. Abgesehen davon war die Weihung einer Kirche, wie Vater uns einmal erklärt hatte, so dauerhaft wie eine Tätowierung. St. Tankred, sagte er, war vor der Reformation eine römisch-katholische Kirche gewesen, und in seinen Augen blieb sie das auch.
Deshalb marschierten wir ausnahmslos jeden Sonntagmorgen im Gänsemarsch querfeldein. Vater hieb ab und zu mit seinem Malakka-Spazierstöckchen in die Vegetation, ihm folgten Feely, Daffy und ich (und zwar in dieser Reihenfolge), und Dogger bildete in seinem besten Sonntagsstaat die Nachhut.
In St. Tankred schenkte uns niemand auch nur die geringste Beachtung. Vor einigen Jahren hatten sich etliche Gemeindemitglieder beschwert, aber eine strategisch wohlplatzierte Spende für die Restaurierung der Orgel hatte den Unmut ohne Blutvergießen und blaue Flecken alsbald beschwichtigt.
»Sagen Sie Ihrer Gemeinde doch bitte, dass wir vielleicht mit ihnen beten«, hatte Vater den Vikar gebeten, »dass wir aber auch nicht ausdrücklich gegen sie beten.«
Einmal, als Feely den Kopf verlor und nach vorn zur Kommunion ging, sprach Vater bis zum nächsten Sonntag kein Wort mehr mit ihr. Seit damals raunte er ihr, wenn sie in der Kirche auch nur mit den Füßen scharrte, zu: »Ruhig, altes Mädchen, gaaanz ruhig.« Er brauchte sie dabei nicht anzusehen. Der Anblick seines Profils, das dem eines Standartenträgers in einer besonders asketischen römischen Legion glich, genügte, um uns in Zaum zu halten. Zumindest in der Öffentlichkeit.
Als ich jetzt zu Feely hinüberschielte, die mit geschlossenen Augen in der Kirchenbank kniete, die gefalteten Hände himmelwärts gerichtet, und tonlos Andachtsformeln rezitierte, musste ich mich kneifen, um nicht zu vergessen, dass ich neben einem Satansbraten saß.
Die Gemeinde von St. Tankred hatte sich schon bald an unser unablässiges Verneigen und Niederknien gewöhnt, und wir sonnten uns in christlicher Nächstenliebe - bis auf das eine Mal, als Daffy Mr Denning, dem Organisten, schilderte, wie Harriet in uns allen die feste Überzeugung verankert hätte, dass die Geschichte von der Sintflut in der Genesis aus der gattungsgeschichtlichen Erinnerung der Familie der Katzen stamme, mit einer deutlichen Anspielung auf die Sitte, junge Kätzchen zu ertränken.
Das hatte für einen gewissen Aufruhr gesorgt, aber auch hier war es Vater gelungen, die Wogen mittels einer großzügigen Spende für die Reparatur des Kirchendachs wieder zu glätten, einer Summe, die er Daffy allerdings vom Taschengeld abzog.
»Da ich sowieso kein Taschengeld kriege«, hatte Daffy gemeint, »ist niemandem ein Schaden entstanden. Eigentlich keine schlechte Strafe.«
Ich hörte unbewegt zu, wie die Gemeinde die allgemeine Beichte ablegte und dem Pfarrer nachsprach:
»Wir haben Dinge nicht getan, die wir hätten tun sollen; und wir haben Dinge getan, die wir nicht hätten tun dürfen.«
Mir kamen, leicht abgewandelt, Doggers Worte in den Sinn:
»Es gibt Dinge, über die spricht man. Und es gibt andere Dinge, die behält man lieber für sich.«
Ich drehte mich zu ihm um. Seine Augen waren geschlossen, seine Lippen bewegten sich. Wie bei Vater übrigens auch.
Da es der Sonntag des Dreifaltigkeitsfestes war, kamen wir in den Genuss einer recht selten vorgetragenen Räuberpistole aus der Offenbarung, wo es um die Steine Jaspis und Sarder geht, um den Regenbogen rings um den Thron, das gläserne Meer gleich dem Kristall und die vier Tiergestalten voller Augen, außen und unangenehmerweise auch noch innen.
Ich hatte meine eigene Ansicht zu der wahren Bedeutung dieser offensichtlich alchimistischen Anspielung, aber da ich mir die für meine Doktorarbeit aufheben wollte, behielt ich sie für mich. Und auch wenn wir de Luces nun mal in der gegnerischen Mannschaft spielten, beneidete ich die Anglikaner gelegentlich um ihr prachtvolles Gebetbuch, das Book of Common Prayer .
Auch die Glasfenster waren prachtvoll. Über dem Altar strahlte das Licht der Morgensonne durch die drei bunten Glasfenster herein, deren Scheiben im finsteren Mittelalter von irgendwelchen halb wilden, halb sesshaften Glasmachern hergestellt worden waren. Die hatten damals am Rand des Ovenhouse Wood gehaust und gezecht, dessen arg ausgedünnte Reste Buckshaw nach Westen hin begrenzten.
Auf dem linken Fenster sprang Jonas gerade aus dem Maul des Wals und drehte sich mit weit aufgerissenen Augen und entrüsteter Miene noch einmal nach dem Untier um. Aus der Broschüre, die am Eingang der Kirche verteilt wurde, wusste ich, dass die Schuppen des Riesenviehs durch das Aufschmelzen ich diese Tatsache interessant - auch ein Gegenmittel bei Arsenvergiftung ist.
Das rechte Fenster zeigte Jesus Christus bei der Auferstehung aus seinem Grab, während Maria Magdalena in einem roten Kleid (ebenfalls Eisenoxid oder vielleicht zerstoßenes Gold) ihm ein violettes Gewand (Manganoxid) und einen gelben Brotlaib (Chlorsilber) hinhielt.
Man hatte die Metallsalze mit Sand und Pflanzenasche gemischt, in einem Ofen erhitzt, der so heiß war, dass es sich sogar Schadrach, Meschach und Abed-Nego noch einmal überlegt hätten, und das Ganze anschließend so weit abgekühlt, bis die gewünschte Farbe erreicht war.
Das mittlere Fenster wurde von unserem ureigenen St. Tankred beherrscht, dessen sterbliche Überreste irgendwo unter unserenFüßen in der Krypta lagen. Das Fenster zeigte ihn in der Tür der Kirche, in der wir saßen (so, wie das Gebäude aussah, ehe die Viktorianer es ›verschönerten‹), und er heißt eine vielköpfige Gemeinde mit offenen Armen willkommen. St. Tankred hat ein freundliches Gesicht, wie jemand, den man bedenkenlos zu sich nach Hause einladen würde, um sonntagnachmittags gemütlich in alten Ausgaben der Illustrated London News oder vielleicht auch von Country Life zu blättern, und da wir Glaubensbrüder sind, stelle ich mir gern vor, dass er, während er bis zum Jüngsten Tag unter dem Kirchenfußboden ratzt, es mit uns Buckshaw-Bewohnern ganz besonders gut meint.
Als sich meine Gedanken allmählich wieder der Gegenwart zuwandten, stellte ich fest, dass der Vikar für den Toten aus unserem Gurkenbeet betete.
»Er kam als Fremder zu uns«, verkündete er. »Seinen Namen brauchen wir nicht zu kennen …«
Das hörte Inspektor Hewitt bestimmt nicht gern.
»… wir können Gott auch so bitten, seiner Seele gnädig zu sein und ihm seinen Frieden zu schenken.«
Demnach wussten inzwischen alle Bescheid! Vermutlich hatte Mrs Mullet keine Zeit verloren und war sofort über die Straße geeilt, um dem Vikar alles brühwarm zu erzählen. Von der Polizei hatte er es ja wohl kaum erfahren.
Читать дальше