Die Dreizehn Erpel - also wirklich. Das konnte auch nur einem Mann einfallen, ein Haus nach irgendwelchen Vögeln zu benennen.
Ich war in Gedanken noch mit Tricedyl beschäftigt, als am Heck des Lasters ein oben abgerundeter, weiß getünchter Stein vorbeisauste. Der Stein kam mir bekannt vor, tatsächlich, es war der Wegweiser nach Doddingsley. Noch eine halbe Meile, dann würde der Fahrer anhalten müssen, wenn auch nur kurz, ehe er entweder rechts nach St. Elfrieda oder links nach Nether Lacey abbog.
Ich rutschte an die Kante der Ladefläche, da quietschten auch schon die Bremsen, und der Laster fuhr langsamer. Und schon ließ ich mich wie ein Spezialagent, der sich aus einem Whitley-Bomber fallen ließ, herunterfallen und landete auf allen vieren im Straßenstaub.
Ohne in den Rückspiegel zu schauen, bog der Fahrer nach links ab, und als das Fahrzeug samt seiner Käsefracht in einer Staubwolke davonrumpelte, machte ich mich auf den Heimweg nach Buckshaw.
Ich hatte noch einen ordentlichen Fußmarsch querfeldein vor mir.
Ich glaube, wenn meine Schwester Ophelia irgendwann mal tot und begraben ist, wird mir bestimmt jedes Mal, wenn ich an sie denke, zuerst ihr sanfter Anschlag am Klavier einfallen. Wenn sie vor der Tastatur unseres alten Broadwood-Flügels im Salon sitzt, wird Feely zu einem völlig anderen Menschen.
Nach jahrelanger Übung - auf Teufel komm raus - verfügt sie über die Linke eines Joe Louis und die Rechte eines Beau Brummel (jedenfalls laut Daffy).
Weil sie so schön spielt, habe ich es immer als meine Pflicht und Schuldigkeit angesehen, gerade dann besonders fies zu ihr zu sein. Wenn sie beispielsweise eins der frühen Stücke von Beethoven spielt, die sich immer anhören, als hätte Beethoven sie von Mozart abgekupfert, lasse ich sofort alles stehen und liegen, ganz gleich, womit ich gerade beschäftigt bin, und schlendere lässig durch den Salon.
»Erstklassige Flossengymnastik«, sage ich dann so laut, dass ich die Musik übertöne. »Wufff! Wuff! Wuff!«
Ophelia hat milchig blaue Augen, genau so, wie sie der blinde Homer gehabt haben könnte. Obwohl sie ihr Repertoire überwiegend auswendig kann, rutscht sie manchmal auf der Klavierbank nach vorn, knickt an der Hüfte ein wie ein Roboter und linst mit zusammengekniffenen Augen in die Noten.
Als ich einmal die Bemerkung fallen ließ, sie sehe dabei aus wie ein orientierungsloser Beuteldachs, sprang sie von der Klavierbank auf und hätte mich um ein Haar mit einer zusammengerollten
Als ich über den letzten Zauntritt stieg und am anderen Ende der Wiese Buckshaw in Sicht kam, verschlug es mir schier den Atem. Aus diesem Blickwinkel und um diese Tageszeit gefiel mir das Anwesen am allerbesten. Als ich mich dem Haus von Westen her näherte, leuchteten die verwitterten alten Mauern in der Spätnachmittagssonne safrangelb, das Gebäude hockte so selbstverständlich in der Landschaft wie eine selbstzufriedene Glucke auf ihren Eiern, und darüber wehte zufrieden der Union Jack.
Das Haus schien mein Kommen überhaupt nicht zu bemerken, als wäre ich ein Eindringling, der sich heimlich von hinten anschleicht.
Schon aus einer Viertelmeile Entfernung perlten mir die Klänge der Toccata von Pietro Domenico Paradisi entgegen - die aus seiner Sonata in A-Dur.
Die Toccata war mein Lieblingsstück; sie ist meiner Ansicht nach die größte musikalische Errungenschaft der Weltgeschichte, aber wenn Ophelia das je erführe, würde sie das Stück nie mehr spielen.
Immer wenn ich diese Musik höre, ist mir zumute, als würde ich den steilen Osthang von Goodger Hill hinabrennen, so schnell, dass meine Beine kaum hinterherkommen, während ich mit dem Wind von links nach rechts segle und Rufe ausstoße wie eine verzückte Seemöwe.
Ein Stück vom Haus entfernt blieb ich auf der Wiese stehen und lauschte dem perfekten Fluss der Töne, nicht zu presto … gerade so, wie es mir gefiel. Ich dachte daran, wie ich Eileen Joyce die Toccata zum ersten Mal hatte spielen hören, damals im BBC Home Service. Vater hatte das Radio angestellt, hörte aber eigentlich nicht zu, da er mit seiner Briefmarkensammlung herumhantierte. Die Klänge bahnten sich ihren Weg durch die Flure und Gänge von Buckshaw, wehten die Wendeltreppe
Wir hatten einander wortlos angesehen, Vater und ich, und nicht gewusst, was wir sagen sollten, bis ich schließlich rückwärts aus dem Zimmer ging und mich wieder nach oben verzog.
Das ist der einzige Haken an der Toccata: sie ist zu kurz.
Ich ging um den Zaun herum und auf die Terrasse. Vater saß am Fenster seines Arbeitszimmers am Schreibtisch und war ganz in seine Tätigkeit vertieft, worum auch immer es sich handeln mochte.
Die Rosenkreuzer behaupten ja in ihren Anzeigen, dass man einen gänzlich Unbekannten in einem voll besetzten Kino dazu bringen kann, sich umzudrehen, indem man seinen Hinterkopf anstarrt. Ich machte jetzt die Probe aufs Exempel.
Vater blickte auf, sah mich aber nicht. Er war mit seinen Gedanken ganz woanders.
Ich rührte mich kein bisschen.
Dann ließ er den Kopf wieder sinken, als wäre er aus Blei, und Feely stimmte im Salon ein Stück von Schumann an.
Immer wenn sie an Ned denkt, spielt Feely Schumann. Darum nennt man diese Art von Musik wohl auch »Romantik«. Einmal, als sie mit besonders verträumtem Blick eine Schumann-Sonate spielte, sagte ich laut zu Daffy, dass ich das Programm, das in diesen Musikpavillons gespielt wird, einfach toll finde, und Feely bekam einen Wutanfall, der sich nicht mal dann legte, als ich das Zimmer verließ und kurz darauf zurückkehrte, und zwar mit einem Bakelit-Hörrohr, das ich in einem Wandschrank gefunden hatte, und einem handgemalten Schild um den Hals, auf dem stand: »Durch einen tragischen Klavierunfall ertaubt. Bitte haben Sie Mitleid.«
Wahrscheinlich hatte Feely den Vorfall inzwischen längst vergessen. Ich nicht. Als ich so tat, als wollte ich am Flügel vorbei zum Fenster gehen, warf ich einen verstohlenen Blick in ihr Gesicht. Verflixt! Immer noch nichts für mein Notizbuch!
»Du kriegst bestimmt Ärger«, sagte sie und knallte den Deckel zu. »Wo hast du den ganzen Tag gesteckt?«
»Kümmere dich um deine eigenen Angelegenheiten«, erwiderte ich. »Bin ich vielleicht deine Kammerzofe?«
»Alle haben dich gesucht. Daffy und ich haben allen erzählt, du wärst von zu Hause weggelaufen, aber wie es scheint, haben wir uns wohl leider geirrt. So ein verdammtes Pech aber auch.«
»›Verdammt‹ sagt man nicht, Feely … das weißt du doch. Und puste die Backen nicht so auf, sonst siehst du aus wie eine beleidigte Birne. Wo ist Vater?«
Als ob ich das nicht wüsste.
»Er war den ganzen Tag noch nicht vor der Tür«, sagte Daffy. »Glaubt ihr, die Sache von heute Morgen macht ihm noch zu schaffen?«
»Die Leiche auf unserem Grundstück? I wo. Das hat doch nichts mit ihm zu tun.«
»Das hab ich mir auch gedacht.« Feely klappte den Flügel wieder auf, warf das Haar zurück und stimmte die erste von Bachs Goldberg-Variationen an.
Ein langsames, aber trotzdem wunderschönes Stück, auch wenn Bach meiner Meinung nach nicht mal an seinem besten Tag einem Pietro Domenico Paradisi das Wasser reichen konnte.
Dann fiel mir Gladys wieder ein! Ich hatte sie beim Dreizehn Erpel stehen lassen, wo sie jeder sehen konnte. Wenn die Polizei nicht längst dort gewesen war, würde sie bestimmt bald dort aufkreuzen.
Ob die Beamten Mary und Ned bereits so weit bearbeitet hatten, dass sie ihnen von meinem kleinen Besuch erzählt hatten?
Fünf Minuten später war ich zum dritten Mal an diesem Tag unterwegs nach Bishop’s Lacey - diesmal zu Fuß.
Indem ich immer in der Nähe der Hecken blieb und mich jedes Mal, wenn ich ein Fahrzeug kommen hörte, hinter einen Baum duckte, gelang es mir, auf einem kleinen Umweg ans andere Ende der Dorfstraße zu gelangen, die wie immer um diese späte Stunde bereits in behaglichem Dämmerschlaf lag.
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