Was für ein Gift wirkte derart schnell? Ich ging die gebräuchlichsten durch. Zyankali wirkte innerhalb von Minuten, das Opfer wurde erst blau im Gesicht und erstickte dann rasch. Zurück blieb ein feiner Mandelgeruch. Gegen Zyankali sprach allerdings, dass das Opfer längst hätte tot gewesen sein müssen, als ich es entdeckte. (Ich muss zugeben, ich habe ein gewisses Faible für Zyankali - es wirkt nun mal am allerschnellsten. Wenn Gifte Pferde wären, würde ich immer auf Zyankali setzen.)
Hatte der letzte Atemzug des Mannes nach Bittermandel gerochen? Ich konnte mich nicht entsinnen.
Dann gab es noch Kurare. Das wirkte ebenfalls beinahe sofort, und auch davon erstickte das Opfer im Nu. Aber Kurare
Wie wäre es mit Tabak? Mir fiel ein, dass man eine Handvoll Tabakblätter, die man in einem Wasserkrug mehrere Tage in der Sonne weichen ließ, zu einem zähen, schwarzen, sirupartigen Harz eindampfen konnte, das innerhalb von Sekunden tödlich wirkte. Aber Nicoteana wuchs in Amerika. In England oder in diesem Falle in Norwegen ließen sich schwerlich frische Blätter auftreiben.
Frage: Ergeben zerkrümelte Zigarettenkippen, Zigarren oder Pfeifentabak ein genauso tödliches Gift?
Da auf Buckshaw niemand rauchte, musste ich mir wohl anderswo Proben beschaffen.
Frage: Wann (und wohin) werden die Aschenbecher im Dreizehn Erpel geleert?
Die eigentliche Frage lautete: Wer hatte den Kuchen vergiftet? Beziehungsweise: Wenn der Mann aus dem Gurkenbeet nur zufällig ein Stück davon gegessen hatte, wem war das Gift ursprünglich zugedacht gewesen?
Ich erschauerte, als ein Schatten über die Insel glitt. Als ich zum Himmel schaute, sah ich, dass sich eine dunkle Wolke vor die Sonne geschoben hatte. Bald würde es regnen.
Noch ehe ich aufspringen konnte, kam es auch schon wie aus Kübeln herunter - einer jener überraschenden Gewitterschauer im frühen Juni, die Blumen zerdrücken können und alle Regenrinnen überquellen lassen. Ich stellte mich genau in die Mitte des Pavillons unter die Kuppel, in der Hoffnung, mich dort vor dem Geprassel schützen zu können und halbwegs trocken zu bleiben - fror aber trotzdem wie ein Schneider, denn ein kräftiger Wind wehte zwischen den Säulen hindurch. Um mich ein wenig zu wärmen, schlang ich die Arme um mich. In so einem Fall, dachte ich, wartet man am besten ab, bis es vorüber ist.
»Hallo? Alles in Ordnung?«
Am gegenüberliegenden Seeufer stand ein Mann und schaute zu mir herüber. Durch die Regenschleier sah ich ihn als lauter verschwommene Tupfen, wie eine Figur auf einem impressionistischen Gemälde. Aber noch ehe ich etwas erwidern konnte, hatte er schon die Hosenbeine hochgekrempelt und die Schuhe ausgezogen und kam barfuß angewatet. Dabei stützte er sich auf einen langen Spazierstock, sodass er ein wenig wie der heilige Christophorus aussah, der das Jesuskind huckepack über den Fluss trägt. Allerdings hatte dieser Mann, wie ich erkennen konnte, als er näher gekommen war, einen Leinenrucksack über der Schulter.
Er trug einen ausgebeulten Ausgehanzug und hatte einen breitkrempigen Schlapphut auf dem Kopf, ein bisschen so wie der Filmstar Leslie Howard, dachte ich. Der Mann war schätzungsweise um die fünfzig, ungefähr so alt wie Vater, aber wesentlich modischer gekleidet.
Mit dem wasserdichten Skizzenbuch in der Hand verkörperte er den durch die Lande streifenden Künstler: ein Sinnbild des guten, alten Englands und so weiter.
»Alles in Ordnung?«, wiederholte er, und erst jetzt fiel mir auf, dass ich noch gar nicht geantwortet hatte.
»Aber ja. Danke der Nachfrage.« Ich plapperte drauflos, um meine Unhöflichkeit wiedergutzumachen. »Der Regen hat mich überrascht.«
»Das hab ich mir schon gedacht. Du bist ja völlig durchnässt.«
»Nicht nur durchnässt - ich bin bereits gesättigt«, verbesserte ich ihn. Wenn es um Chemie ging, konnte ich ziemlich kleinlich sein.
Er öffnete seinen Rucksack und holte einen wasserdichten Umhang heraus, wie ihn die Wanderer auf den Hebriden tragen. Den legte er mir um die Schultern, und im Nu wurde mir angenehm warm.
»Das wäre doch nicht … aber vielen Dank«, sagte ich.
Anschließend standen wir schweigend nebeneinander, schauten auf den See und lauschten dem Geprassel des Wolkenbruchs.
Nach einer Weile sagte er: »Da wir nun einmal beide auf dieser Insel gestrandet sind, kann es wohl nichts schaden, wenn wir uns einander vorstellen.«
Sein Akzent war schwer einzuordnen. Oxford mit einem Hauch von etwas anderem. Skandinavien?
»Ich heiße Flavia. Flavia de Luce.«
»Und ich heiße Pemberton, Frank Pemberton. Freut mich, dich kennenzulernen, Flavia.«
Pemberton? War das nicht der Mann, der gerade im Dreizehn Erpel angekommen war, als ich vor Tully Stoker geflohen war? Da ich nicht wollte, dass jemand von meinem Besuch dort erfuhr, behielt ich es lieber für mich.
Wir schüttelten einander die tropfenden Hände und traten dann wieder jeder ein Stück zurück, wie es Fremde oft machen, nachdem sie einander angefasst haben.
Es regnete und regnete. Irgendwann sagte er: »Offen gestanden wusste ich schon, wer du bist.«
»Ach ja?«
»Mmm. Wenn man sich ernsthaft mit englischen Landsitzen beschäftigt, ist einem der Name de Luce natürlich nicht fremd. Schließlich steht eure Familie im Who’s who. «
»Beschäftigen Sie sich denn ernsthaft mit englischen Landsitzen, Mr Pemberton?«
Er lachte.
»Schon. Allerdings rein beruflich. Genau genommen schreibe ich ein Buch über dieses Thema. Vielleicht nenne ich es Pembertons Herrensitze: Ein Bummel durch die Zeitläufte. Klingt eindrucksvoll, oder?«
»Kommt drauf an, wen Sie beeindrucken wollen, aber doch, irgendwie schon …«
»Ich wohne natürlich in London, aber ich bin jetzt schon eine ganze Weile in diesem Teil des Landes unterwegs und kritzle vor mich hin. Eigentlich hatte ich gehofft, mich auf eurem Anwesen ein wenig umsehen und vielleicht deinen Vater interviewen zu dürfen. Darum bin ich hergekommen.«
»Das wird wohl leider nicht möglich sein, Mr Pemberton«, erwiderte ich. »Es hat bei uns auf Buckshaw nämlich einen unerwarteten Todesfall gegeben, und Vater … unterstützt die Polizei bei den Ermittlungen.«
Unwillkürlich verwandte ich einen Satz, den ich schon oft in entsprechenden Radiosendungen gehört hatte und über dessen Bedeutung ich mir, ehe ich ihn selbst aussprach, noch nie Gedanken gemacht hatte.
»Grundgütiger!«, sagte er. »Ein unerwarteter Todesfall? Doch hoffentlich kein Familienmitglied?«
»Nein, ein Wildfremder. Aber seit man den Toten in unserem Garten gefunden hat, ist Vater … Sie verstehen?«
In diesem Augenblick hörte es so unvermittelt zu regnen auf, wie es angefangen hatte. Die Sonne kam heraus, ließ das nasse Gras in allen Regenbogenfarben glitzern, und irgendwo auf der Insel rief ein Kuckuck, geradeso wie am Ende des Gewitters in Beethovens »Pastorale«. Genau so war’s, ich schwöre es!
»Gewiss verstehe ich das«, versicherte Mr Pemberton. »Es würde mir nicht im Traum einfallen, mich aufzudrängen. Falls sich Colonel de Luce irgendwann später mit mir in Verbindung setzen möchte, ich bin im Dreizehn Erpel in Bishop’s Lacey abgestiegen. Mr Stoker leitet die Nachricht sicherlich gerne an mich weiter.«
Ich nahm den Umhang ab und gab ihn ihm zurück.
»Vielen Dank«, sagte ich, »aber jetzt muss ich wieder nach Hause.«
Wir wateten durch den See zurück wie zwei Strandurlauber am Meer.
»Es hat mich sehr gefreut, dich kennenzulernen, Flavia«, verabschiedete sich Mr Pemberton. »Bestimmt werden wir irgendwann noch richtig gute Freunde.«
Ich sah ihm nach, wie er in Richtung Kastanienallee davonschlenderte, bis er außer Sichtweite war.
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