»Wie hat er das gemacht?«
»Er hat ihm die Finger an den Hals gelegt … unters Ohr.«
»Hm«, machte der Inspektor. »Und? Ich meine: War noch ein Puls festzustellen?«
»Nein.«
»Woher weißt du das? Hat Dogger das gesagt?«
»Nein.«
»Hm«, machte er noch mal. »Hast du dich auch neben den Toten gekniet?«
»Kann sein. Aber ich glaube nicht … ich weiß es nicht mehr.«
Der Inspektor schrieb sich etwas auf. Ich wusste auch was, nämlich: Unklar: Hat D. (1) F. gesagt, dass kein Puls? (2) Hat F. nL (neben Leiche) gekniet?
»Das kann ich gut nachvollziehen«, sagte er. »Du warst bestimmt ganz verstört.«
Ich rief mir den Anblick des Fremden ins Gedächtnis zurück, wie er im Morgengrauen im Gurkenbeet lag: das stoppelige Kinn, die roten Haarsträhnen, die leise hin und her wehten, die bleichen Wangen, das ausgestreckte Bein, die bebenden Finger, der letzte, röchelnde Atemzug. Und das Wort, das er mir zuhauchte … » Vale. «
Hach, was für ein Nervenkitzel!
»Ja«, sagte ich. »Ich war ganz schön baff.«
Allem Anschein nach hatte ich den Test bestanden. Inspektor Hewitt war wieder in der Küche verschwunden, wo die Sergeanten Woolmer und Graves eifrig dabei waren, unter einem Sperrfeuer aus Mrs Mullets Klatschgeschichten und Salatsandwiches ihre Ermittlungen weiterzuführen.
Als Ophelia und Daphne zum Mittagessen runterkamen, nahm ich enttäuscht zur Kenntnis, dass Ophelia heute besonders reine Haut hatte. War mein teuflischer Anschlag nach hinten losgegangen? Hatte ich durch einen launischen Zufall in der Geschichte der Chemie versehentlich eine Wundergesichtscreme entwickelt?
Mrs Mullet kam geschäftig angelaufen und stellte uns mit mürrischer Miene Suppe und Sandwiches hin.
»So was aber auch!«, schimpfte sie. »Ich bin sowieso schon über die Zeit und dann noch dieser ganze Wirbel, dabei wartet Alf schon zu Hause und überhaupt! Die haben vielleicht Nerven, lassen mich die tote Schnepfe aus der Mülltonne wühlen.« Sie schüttelte sich. »Bloß damit sie sich das Vieh noch mal ansehen können. So was aber auch! Ich hab ihnen gezeigt, wo die Mülltonne steht, und gesagt, wenn sie so scharf auf den Vogel sind, sollen sie ihn sich gefälligst selber rausholen, ich muss nämlich Mittagessen machen. Esst eure Brote, meine Lieben. Im Juni gibt es nichts Besseres als kalten Braten. Fast so gut wie ein Picknick.«
»Eine tote Schnepfe?« Daphne verzog angeekelt die Oberlippe.
»Der tote Vogel, der gestern vor der Küchentür sein Leben ausgehaucht hat. Miss Flavia und der Colonel haben’s auch gesehen. Ich krieg immer noch’ne Gänsehaut, wenn ich dran denke, wie das Vieh da lag, die Augen ganz starr, den Schnabel hoch in die Luft und dann noch das Papierfitzelchen draufgesteckt.«
»Ned!« Ophelia schlug auf den Tisch. »Du hattest tatsächlich Recht, Daffy. Es ist ein Liebespfand!«
Daphne hatte über Ostern Der Goldene Zweig gelesen und Ophelia erzählt, dass sich manche primitiven Bräuche aus der Südsee hinsichtlich der Brautwerbung bis in unsere aufgeklärten Zeiten erhalten hätten. Man musste einfach nur Geduld haben, hatte sie gemeint.
Ich schaute verdutzt von einer zur anderen. Es gab ganze Ewigkeiten, in denen ich meine Schwestern schlicht nicht verstand.
»Ein toter Vogel, steif wie ein Brett, der den Schnabel in die Luft reckt? Was soll das bitteschön für ein Liebespfand sein?«, fragte ich.
Daphne versteckte sich hinter ihrem Buch, Ophelia errötete diskret. Ich stand auf und ließ die beiden in ihre Suppe kichernd zurück.
»Mrs Mullet«, fragte ich, »haben Sie Inspektor Hewitt nicht erzählt, dass es hier eigentlich vor September nie Schnepfen gibt?«
»Schnepfen, Schnepfen, Schnepfen! Gibt’s denn kein anderes Thema mehr? Geh mal bitte aus dem Weg. Du stehst da, wo ich grade wischen will.«
»Wie kommt das eigentlich? Wieso gibt es bei uns vor September keine Schnepfen?«
Mrs Mullet richtete sich auf, ließ die Bürste in den Eimer plumpsen und trocknete sich die seifigen Hände an der Schürze ab.
»Weil sie woanders sind«, verkündete sie triumphierend.
»Wo denn?«
»Na ja … da, wo die anderen Zugvögel auch sind. Irgendwo im Norden. Vielleicht besuchen sie ja den Weihnachtsmann in der Sommerfrische.«
»Was meinen Sie mit ›Norden‹? Wo im Norden? In Schottland?«
»Schottland! Meine Güte, nein. Sogar Margaret, die zweite
Sie lachte.
In meinen Ohren rauschte es, und etwas machte Klick.
»Was ist mit Norwegen?«, fragte ich. »Glauben Sie, die Zwergschnepfen verbringen den Sommer vielleicht in Norwegen?«
»Könnte schon sein, mein Schatz. Schlag’s am besten nach.«
Richtig! Hatte Inspektor Hewitt nicht zu Dr. Darby gesagt, dass sie Grund zu der Annahme hätten, der tote Fremde sei aus Norwegen gekommen? Wie kam er darauf? Würde er es mir verraten, wenn ich ihn danach fragte?
Eher nicht. In diesem Fall musste ich es eben selbst herausfinden.
»Und jetzt ab mit dir«, sagte Mrs Mullet. »Ich kann erst heimgehen, wenn ich den Boden fertig gewischt habe, und es ist schon eins. Die Verdauung von meinem armen Alf schlägt wahrscheinlich jetzt schon Kobolz.«
Ich ging durch die Hintertür nach draußen. Die Polizisten und der Arzt waren schon weg und hatten die Leiche mitgenommen. Der Garten kam mir seltsam leer vor. Dogger war nirgends zu sehen, darum setzte ich mich auf einen niedrigen Abschnitt der Gartenmauer und dachte ein bisschen nach.
Sollte tatsächlich Ned die tote Schnepfe als Liebesgabe für Ophelia vor unsere Tür gelegt haben? Ophelia schien jedenfalls davon überzeugt. Wenn es aber Ned gewesen war, wo hatte er den Vogel her?
Zweieinhalb Sekunden später schnappte ich mir Gladys, schwang mich in den Sattel und sauste, zum zweiten Mal an diesem Tag, wie der Wind ins Dorf.
Höchste Eile war geboten. Bis jetzt wusste in Bishop’s Lacey noch keiner vom Tod des Fremden. Die Polizei hatte bestimmt noch niemandem etwas davon erzählt - und ich auch nicht.
Das Getratsche würde erst losgehen, wenn Mrs Mullet mit Wischen fertig und nach Hause ins Dorf gegangen war. Aber dann würde sich die Kunde von dem Mord so rasend schnell ausbreiten wie der Schwarze Tod. Und ich musste unbedingt vorher noch etwas sehr Wichtiges herausfinden.
Ich bremste scharf und lehnte Gladys an einen verwitterten Bauholzstapel. Ned war noch im Hof des Wirtshauses beschäftigt. Er hatte alle Bierfässer weggerollt und war nun dabei, Käseräder so groß wie Mühlsteine von einem geparkten Laster abzuladen, wobei er großspurig die Muskeln spielen ließ.
»Hoy, Flavia«, begrüßte er mich und nutzte sogleich die Gelegenheit, seine Arbeit zu unterbrechen. »Magst’n Stück Käse?«
Ehe ich antworten konnte, hatte er ein brutal aussehendes Klappmesser aus der Tasche geholt und erschreckend mühelos eine dicke Scheibe Stilton abgeschnitten. Er selbst schnitt sich auch eine ab und biss mit »geräuschvollem Gusto« (so hätte Daphne das genannt) herzhaft hinein. Daphne will Schriftstellerin werden, darum notiert sie sich in einem alten Kontobuch alle möglichen Redewendungen, die ihr bei der täglichen Lektüre auffallen. Mir war der »geräuschvolle Gusto« noch vom letzten Mal, als ich heimlich in ihrem Buch gelesen hatte, in Erinnerung.
»Warste daheim?«, erkundigte sich Ned und warf mir einen verlegenen Seitenblick zu. Was jetzt kommen würde, konnte ich mir denken. Ich nickte.
»Und wie geht’s Miss Ophelia? War der Doktor schon bei ihr?«
»Ja, ich glaube, er hat heute Morgen bei uns reingeschaut.«
Ned schluckte den Schwindel anstandslos.
»Ist sie immer noch überall grün?«
»Sie ist inzwischen gelblicher«, sagte ich. »Und zwar eher schwefelgelb als kupfrig.«
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