Nestor Pollgate sagte: »Jay, hol den Wagen zum Seiteneingang, ja?«, und der gräßliche Erskine zog ab.
Pollgate und Lord Vaughnley kamen überein, daß Mario, wer immer er war, den Sponsoren von Icefall ausrichten solle, ihre Gäste nähmen an dem Lunch nun doch nicht teil, da ich eine Gallenkolik bekommen hätte und Lord Vaughnley mir behilflich sei. »Das kann Mario ihnen aber erst sagen, wenn wir weg sind«, meinte Lord Vaughnley, »sonst haben Sie im Nu meine Frau und wahrscheinlich auch die Prinzessin hier draußen, um ihn zu bemuttern.«
Ich saß da und hörte teilnahmslos zu, bewegungsunfähig, ohne mich bewegen zu wollen, nicht mehr schwindlig, sondern klar im Kopf, ungemein friedlich und völlig ohne Energie.
Nach einer Weile kam Jay Erskine mit seinem aufreizenden Grinsen zurück.
»Können Sie gehen?« fragte mich Pollgate.
Ich sagte »Ja« und stand auf, und wir gingen zur Seitentür hinaus, durch einen kurzen Flur und irgendeine vergoldete, mit einem dicken Teppich belegte Hintertreppe hinunter, die zweifelsohne manchem Guineas-Besucher ein diskretes Kommen und Gehen unter Ausschluß der Öffentlichkeit im Foyer ermöglichte.
Ich zitterte die Treppe hinunter, hielt mich am Geländer fest.
»Geht’s Ihnen gut?« sagte Lord Vaughnley besorgt und schob stützend die Hand unter meinen Ellbogen.
Ich warf ihm einen Blick zu. Wie er denken konnte, es ginge mir gut, war mir ein Rätsel. Vielleicht erinnerte er sich, daß ich an Wunden, Stürze, Hirnerschütterungen gewöhnt war; aber Prellungen und Brüche waren etwas anderes als das kleine Feuerwerk von heute.
»Mir geht’s gut«, sagte ich trotzdem, denn soweit es darauf ankam, stimmte es, und wir gelangten ohne Zwischenfall nach unten. Dort hielt ich an. Die Ausgangstür lag offen vor uns, rechts erstreckte sich ein Gang ins Hausinnere.
»Weiter.« Pollgate deutete auf die Tür. »Wenn wir gehen wollen, sollten wir gehen.«
»Mein Anorak«, sagte ich, »ist in der Garderobe.« Ich zog die Marke aus meiner Tasche. »Anorak«, sagte ich.
»Ich hole ihn.« Lord Vaughnley nahm die Marke an sich. »Und ich spreche mit Mario. Warten Sie im Wagen auf mich.«
Es war ein großer Wagen. Jay Erskine übernahm das Steuer. Nestor Pollgate saß wachsam neben mir im Fond, und Lord Vaughnley setzte sich, als er zurückkam, nach vorn.
»Ihr Anorak«, sagte er, hielt ihn mir hin, und ich bedankte mich und legte ihn zu meinen Füßen auf den Boden.
»Die Filme von den Rennen sind gerade rum, sagt Mario«, berichtete er Pollgate. »Er saust gleich rein und entschuldigt uns. Es ist alles geregelt. Auf geht’s.«
Wir brauchten eine Ewigkeit, um aus London herauszukommen, teils wegen des dichten Verkehrs, hauptsächlich aber, weil Jay Erskine vor lauter Ungeduld ein miserabler Fahrer war und ständig die Bremsen schindete. Anderthalb Stunden bis Newmarket bei diesem Tempo - und bis dahin mußte es mir bessergehen.
Keiner redete viel. Jay Erskine verschloß zentral die Türen, und Nestor Pollgate packte den Kasten mit dem Betäubungsgerät in seine rechte Jackentasche, versteckt, aber erreichbar. Ich saß mit gemischten Gefühlen neben ihm, halb Gefangener, halb Zirkusdirektor; fuhr bereitwillig und doch unter Drohungen mit, wartete darauf, daß meine körperlichen, geistigen, seelischen Kräfte wiederkehrten.
Betäubungswaffen, dachte ich. Ich hatte schon von ihnen gehört, noch nie zuvor eine gesehen. Ursprünglich von der amerikanischen Polizei verwendet, um gefährliche Gewaltverbrecher auszuschalten, ohne auf sie zu schießen. Sofort wirksam. Zuverlässig. Sieh einer an.
Ich wußte aus längst vergangenen Physikstunden, daß man Funken erzeugen konnte, indem man piezoelektrische Kristalle zusammenpreßte, wie bei einfachen Gasanzündern. Vielleicht waren diese Betäubungswaffen ähnlich, nur wesentlich stärker. Oder auch nicht. Vielleicht würde ich jemand fragen. Oder auch nicht. Fünftausend Volt ...
Ich schaute nachdenklich auf Lord Vaughnleys Hinterkopf, fragte mich, was in ihm vorging. Er war mit Eifer dabei, das stand fest. Sie hatten sich zu der Fahrt bereit erklärt wie Dürstende in einer großen Dürre. Sie fuhren mit, ohne genau zu wissen, warum, ohne Auskunft zu verlangen. Alles, was Maynard Allardeck schaden konnte, mußte in ihren Augen wert sein, getan zu werden. Deshalb hatte Lord Vaughnley mich offenbar zu Anfang auch so gern mit Rose Quince bekannt gemacht, mich auf die Akten losgelassen. Vielleicht hatte er sich gedacht, die Zerstörung von Maynards Glaubwürdigkeit könnte durch ein paar Nadelstiche von meiner Seite nur gefördert werden.
Ich dämmerte, wachte erschrocken auf, fand Pollgates Gesicht mir zugewandt, seine Augen auf mich geheftet. Sie waren ausdruckslos, allenfalls verwirrt.
In meinem Stoffpuppenzustand fiel mir nichts Sinnvolles zu sagen ein, darum schwieg ich, und während er dann den Kopf abwandte und aus dem Fenster sah, war ich mir durchaus noch seiner Stärke und seiner Rücksichtslosigkeit bewußt. Er konnte mein Leben ruinieren, wenn ich die nächsten Stunden falsch anging.
Ich dachte daran, wie sie ihre Falle im Guineas aufgezogen hatten.
Icefalls Sponsoren auf meinem Anrufbeantworter, mit der Einladung zum Lunch. Die Sponsoren hatten nicht gesagt, wo, aber sie hatten gesagt, morgen, Dienstag: heute. Die Nachricht mußte belauscht, an Pollgate übermittelt und von ihm Lord Vaughnley weitergeleitet worden sein, der dann wohl sagte: Kinderleicht, mein Lieber, ich tue mich mit den Sponsoren zusammen, das können die kaum ablehnen, und Kit Fielding erscheint ganz bestimmt, der Prinzessin zuliebe würde er alles tun ...
Pollgate hatte das Guineas gekannt. Mario gekannt. Gewußt, daß er für eine Stunde einen gesonderten Raum bekommen konnte. Solche Möglichkeiten kannte er mit Sicherheit.
Vielleicht hatte Lord Vaughnley den Sponsoren das Guineas vorgeschlagen. Vielleicht war das auch nicht nötig gewesen. Es gab oft Rennsportfeierlichkeiten im Guineas. Die Sponsoren konnten es ohne weiteres von sich aus gewählt haben, weil sie wußten, daß man dort die Filme zeigen konnte.
Nutzlose Gedanken. Wie immer es geplant worden war, es hatte geklappt.
Ich dachte auch über die Allianz zwischen Lord Vaughn-ley und Nestor Pollgate nach, Verleger zweier rivalisierender Zeitungen. Im Druck fuhren sie einander ständig an die Kehle, und privat handelten sie gemeinsam.
Verbündete, keine Freunde. Sie gingen nicht unbefangen miteinander um, wie es Freunde taten.
Am 1. Oktober hatte Lord Vaughnley den Brief der wohltätigen Organisation unterzeichnet, die Maynard für die Adelsverleihung vorschlug - ihn vielleicht beiläufig unterzeichnet, ohne den Mann gut zu kennen.
Später im Oktober hatte sein Sohn Hugh dann den Handel mit Maynard eingestanden, und Lord Vaughnley hatte empört versucht, Maynards Adelung zu hintertreiben, indem er Pollgate und seine Flag auf Zerstörungskurs brachte, denn das war eine Spezialität der Flag ... und Jay Erskine, der einmal für Lord Vaughnley gearbeitet hatte, saß in der Flag-Redaktion und war bekanntlich dem einen oder anderen illegalen Einsatz nicht abgeneigt.
Ich wußte nicht, wieso Lord Vaughnley sich an Pollgate gewandt, von ihm Hilfe erwartet hatte. Irgendwo zwischen ihnen gab es einen Grund. Ich glaubte nicht, daß ich eine Antwort bekommen würde, wenn ich fragte.
Lord Vaughnley, dachte ich, hätte der Stiftung sagen können, er wolle seine Empfehlung für Maynards Adelung zurücknehmen, doch dann hätten sie womöglich entgegnet: Tut uns sehr leid, Ihr Sohn war ein Narr, aber Maynard hat ihm geholfen. Als Zeitungsmann mochten Lord Vaughnley ein paar vernichtende Artikel sicherer erschienen sein - und außerdem befriedigender für den Rachedurst.
Davor allerdings war er es vermutlich auch gewesen, der zu den Produzenten von Handel heute gegangen war, der gesagt hatte, grabt aus, was ihr könnt, über Allardeck, ich bezahle es euch: Und der Regisseur selbst hatte ihm einen Strich durch die Rechnung gemacht, da er Rose Quince zufolge Geld dafür nahm, daß er seinen Opfern aus der Klemme half.
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