Pflicht erfüllt, dachte ich grinsend, als ich den Umschlag zuklebte, und jetzt ist er erst mal dran.
Jerry und ich schlugen uns im Cafe den Bauch voll. Ich war seit fünf Wochen und zwei Tagen bei Humber, und meine Sachen wurden mir zu weit.
Als wir nichts mehr hinunterbrachten, fuhr ich noch einmal bei der Post vorbei, um eine Wanderkarte von der Umgebung und einen billigen Zirkel zu kaufen. Jerry leistete sich einen Spielzeugpanzer für fünfzehn Shilling, dem er bisher widerstanden hatte, und — nicht ohne sich zu vergewissern, ob er von mir verlangen konnte, es ihm vorzulesen — ein zweites Comicheft. Dann fuhren wir zurück zu Humber.
Tage vergingen. Mickey trank sein präpariertes Wasser, und ich konnte seine Box sauberhalten und ihn ohne große Mühe versorgen. Cass nahm ihm den zweiten Verband ab, und wieder war von roter Paste nichts zu sehen. Die Wunden begannen zu heilen.
Da Mickey nicht geritten werden konnte und sehr ängstlich reagierte, wenn man ihn auf die Straße bringen wollte, mußte er jeden Tag eine Stunde im Hof herumgeführt werden, was mich mehr anstrengte als ihn, mir aber Zeit gab, einigen produktiven Gedanken nachzugehen.
Humbers Stock krachte Dienstag früh schallend auf Charlies Schultern, und im ersten Moment sah es aus, als würde Charlie zurückschlagen, doch Humber starrte ihn kalt an, bis er den Blick senkte, und versetzte ihm am nächsten Morgen einen noch festeren Schlag auf die Schultern. An diesem Abend blieb Charlies Bett leer. Er war der vierte Abgang in den sechs Wochen meines Aufenthalts bei Humber (nicht mitgezählt den Jungen, der nur drei Tage blieb), und von meinen sechs ursprünglichen Schlafsaalgenossen waren nur noch Bert und Jerry übrig. Der Zeitpunkt, da ich die Abschußliste anführen würde, rückte in greifbare Nähe.
Adams begleitete Humber, als der am Donnerstag abend seinen gewohnten Rundgang machte. Sie blieben vor Mickeys Box stehen, begnügten sich aber mit einem Blick über die Halbtür.
«Geh nicht rein, Paul«, sagte Humber warnend.»Er ist trotz der Sedierung noch unberechenbar.«
Adams sah mich drinnen bei Mickey stehen.
«Wieso macht der Zigeuner das Pferd? Ich denke, das hat der Schwachkopf. «Es klang wütend und bestürzt.
Humber erklärte ihm, daß er uns hätte tauschen lassen, nachdem Mickey Jerry gebissen habe. Adams hielt zwar immer noch nichts davon, aber wie es schien, wollte er sich erst dazu äußern, wenn sie unter sich waren.
Er sagte:»Wie heißt der Zigeuner?«
«Roke«, erwiderte Humber.
«Na, Roke, dann kommen Sie mal aus der Box raus.«
«Denk dran, Paul, daß wir schon einen Mann zu wenig haben«, sagte Humber besorgt.
Das hörte sich nicht gerade vertrauenerweckend an. Ich ging durch die Box, ohne Mickey aus den Augen zu lassen, trat zur Tür hinaus, blieb krumm stehen und schaute auf den Boden.
«Roke«, sagte Adams mit Kreide in der Stimme,»wofür geben Sie Ihren Lohn aus?«
«Ich stottere mein Motorrad ab, Sir.«
«Sie stottern was? Ach so. Und wie viele Raten haben Sie noch?«
«Ehm, ungefähr fünfzehn, Sir.«
«Und Sie wollen hier bleiben, bis Sie es abbezahlt haben?«
«Ja, Sir.«
«Nimmt man Ihnen das Motorrad weg, wenn Sie nicht weiterzahlen?«
«Das kann sein, Sir.«
«Dann braucht Mr. Humber also keine Angst zu haben, daß Sie ihn verlassen?«
Langsam und widerstrebend, durchaus aber wahrheitsgemäß sagte ich:»Nein, Sir.«
«Gut«, meinte er aufgeräumt,»dann wäre das ja geklärt. Und jetzt sagen Sie mir mal, woher Sie den Mut nehmen, ein unberechenbares, halb verrücktes Pferd zu pflegen.«
«Es ist ruhiggestellt, Sir.«»Sie und ich, Roke, wissen doch beide, daß ein ruhiggestelltes Pferd noch kein ungefährliches Pferd ist.«
Ich schwieg. Wenn ich jemals eine Eingebung gebraucht hatte, dann jetzt, aber in meinem Kopf war Mattscheibe.
«Ich glaube nicht, daß Sie so pflaumenweich sind, wie Sie tun, Roke«, sagte er leise.»Mir scheint, daß sehr viel mehr in Ihnen steckt, als Sie uns weismachen wollen.«
«Nein, Sir«, sagte ich hilflos.
«Das wollen wir doch gleich mal feststellen.«
Er streckte die Hand aus, und Humber reichte ihm seinen Gehstock. Adams holte aus und versetzte mir einen ziemlich schmerzhaften Schlag auf den Oberschenkel.
Wenn ich bei Humber bleiben wollte, mußte ich etwas tun, damit er aufhörte. Staub fressen war angezeigt. Ich schnappte nach Luft, rutschte an der Stalltür runter und setzte mich auf den Hintern.
«Bitte nicht, Sir«, rief ich.»Ich habe mir Tabletten besorgt. Weil ich so eine Angst vor Mickey hatte, hab ich mir am Samstag in der Apotheke in Posset Tabletten geben lassen, die Mut machen, und die nehme ich jetzt immer.«
«Was für Tabletten?«fragte Adams ungläubig.
«Irgendwas mit Trankie, oder wie das heißt.«
«Tranquilizer.«
«Ja, genau. Schlagen Sie mich bitte nicht mehr, Sir. Ich hatte eine Heidenangst vor Mickey. Bitte schlagen Sie mich nicht mehr, Sir.«
«Du liebe Zeit«, lachte Adams.»Ich fass’ es nicht. Darauf muß man erst mal kommen. «Er gab Humber den Stock zurück, und als wäre nichts gewesen, gingen beide zur nächsten Box.
«Hast du Schiß, nimm Tranquilizer. Na ja, warum nicht?«
Immer noch lachend, gingen sie zum nächsten Pferd hinein.
Ich stand langsam auf und klopfte mir den Hosenboden ab. Verdammt, dachte ich unglücklich, aber was blieb mir denn anderes übrig? Warum war Stolz nur so wichtig, und warum war es so bitter, ihn aufzugeben?
Fest stand, daß Schwäche mein einziger Aktivposten war. Adams hatte den perversen Drang, jeden kleinzukriegen, der Charakter zeigte. Er beherrschte Humber, verlangte unbedingten Gehorsam von Cass und hatte zwei Verbündete in ihnen. Wenn ich ihm auch nur ansatzweise die Stirn bot, würde ich mir nichts als blaue Flecken einhandeln und ihm Anlaß geben, sich zu fragen, wieso ich trotzdem blieb. Je mehr Standhaftigkeit ich bewies, desto mehr mußte ihn das verwundern. Die Raten fürs Motorrad erklärten nicht alles. Er war auf Draht. Wenn er scharf nachdachte, würde ihm einfallen, daß ich aus Octobers Rennstall kam. Sicher wußte er, daß October in der Hindernisbehörde saß und damit sein natürlicher Feind war. Tommy Stapleton würde ihm einfallen. Der siebte Sinn des Gejagten würde ihn hellhörig machen. Er konnte auf die Post gehen und in Erfahrung bringen, daß ich nicht jede Woche Geld anwies, er konnte in die Apotheke gehen und herausbekommen, daß ich keine Tranquilizer gekauft hatte. Wer so tief drinsteckte wie er, mußte das Risiko vermeiden, daß ein zweiter Stapleton auftauchte; sobald ich in Verdacht geriet, waren zumindest meine Tage als Ermittler gezählt. Wenn er mich dagegen weiterhin als Menschen ohne Rückgrat ansah, würde er sich den Teufel um mich scheren, und ich konnte nötigenfalls noch fünf bis sechs Wochen bei Humber bleiben. Gott behüte, dachte ich.
Auch wenn seine Reaktion nicht vom Kopf, sondern aus dem Bauch kam, war Adams doch zu Recht beunruhigt, daß ich an Jerrys Stelle jetzt Mickey betreute.
In den Stunden, die ich bei dem Pferd verbracht hatte, war mir klargeworden, was eigentlich mit ihm los war, und nach und nach hatten sich die gesammelten Informationen über die betroffenen Pferde mit dem, was ich über Pferde allgemein wußte, schlüssig zusammengefügt. Ich konnte mir inzwischen denken, wie Adams und Humber ihre Pferde das Siegen gelehrt hatten.
Ich ahnte es, wußte es aber nicht genau. Eine These, die noch zu beweisen war. Dafür brauchte ich Zeit, und wenn ich Zeit nur damit erkaufen konnte, daß ich mich auf den Boden setzte und Adams anflehte, mich nicht zu schlagen, dann mußte es eben sein. Abscheulich war es trotzdem.
October vergab sich in seiner Antwort nichts.
«Nach Auskunft des derzeitigen Besitzers wird Six-Ply in keinem Verkaufsrennen antreten. Heißt das nun, daß er nicht gedopt wird?
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