Da Kandersteg in Humbers geheimem Geschäftsbuch stand, war stark anzunehmen, daß er über kurz oder lang den gleichen Weg wie Mickey gehen würde. Selbst wenn ich das Versteck dann immer noch nicht fand, konnte es nichts schaden, ein klares Bild von der Umgebung zu haben.
Um vier kam ich mit dem gewohnten Mangel an Begeisterung wieder bei Humber an und machte mich an die Stallarbeit.
Sonntag und Montag nichts Neues. Mit Mickey wurde es nicht besser; die Wunden an den Beinen heilten zwar, doch er blieb trotz der Ruhigstellung ein heikler Kunde, und er magerte ab. Obwohl ich noch nie mit einem Pferd in einer solchen Verfassung zu tun gehabt hatte, kam ich bald zu der Überzeugung, daß er sich nicht mehr erholen würde und daß Adams’ und Humbers Rechnung wieder einmal nicht aufgegangen war.
Auch Humber und Cass gefiel er nicht, wobei Humber mit jedem Tag mehr verärgert als besorgt zu sein schien. Eines Morgens kam Adams, und von Dobbins Box auf der anderen Stallseite aus sah ich die drei zu Mickey hineinschauen. Nach einer Weile betrat Cass die Box und kam gleich wieder kopfschüttelnd heraus. Adams sah wütend aus. Er nahm Humber beim Arm und ging offenbar unter bösen Worten mit ihm zum Büro. Ich hätte das zu gern mit angehört. Schade, daß du nicht Lippenlesen kannst, dachte ich, oder nicht wenigstens ein Richtmikrofon dabei hast. Als Spion mußte ich noch viel lernen.
Am Dienstag morgen beim Frühstück bekam ich einen Brief, abgestempelt in Durham, und betrachtete ihn neugierig, da doch kaum jemand wußte, wo ich mich aufhielt, oder sich die Mühe machen würde, mir zu schreiben. Ich steckte ihn erst mal weg, um ihn später ungestört zu lesen, und darüber war ich dann froh, denn zu meiner Überraschung kam er von Octobers Ältester.
Sie hatte von der Uni aus geschrieben und faßte sich kurz:
Lieber Daniel Roke,es würde mich freuen, wenn Sie diese Woche irgendwann bei mir vorbeikommen könnten. Ich habe etwas mit Ihnen zu besprechen.Herzlich, Elinor Tarren.
Wahrscheinlich soll sie mir etwas von October ausrichten oder zeigen, dachte ich, oder er will mich selbst sprechen, wollte aber nicht das Risiko eingehen, direkt an mich zu schreiben. Verwirrt bat ich Cass um einen freien Nachmittag, den ich aber nicht bekam. Höchstens Samstag, sagte er, und das auch nur, wenn du parierst.
Ich dachte, Samstag könnte schon zu spät sein, oder sie würde zum Wochenende nach Yorkshire fahren, schrieb ihr aber, daß es nur an diesem Tag ginge, und brachte am Dienstag nach dem Abendbrot den Brief in Posset auf die Post.
Ihre Antwort kam am Freitag, wieder kurz und bündig und ohne Hinweis darauf, weshalb sie mich sprechen wollte.
«Samstag nachmittag paßt mir sehr gut. Ich sage dem Pförtner, daß Sie kommen. Gehen Sie zum Nebeneingang des College (das ist der für die Studentinnen und Besucher), und lassen Sie sich auf mein Zimmer führen.«
Eine beigefügte Bleistiftskizze zeigte mir, wie ich zu dem College kam, und das war alles.
Samstag früh mußte ich sechs Pferde versorgen, weil für Charlie noch immer kein Ersatz gefunden und Jerry mit Pageant zu den Rennen gefahren war. Adams kam wie üblich, um mit Humber zu reden und das Verladen seiner Jagdpferde zu überwachen, kümmerte sich dankenswerterweise aber nicht um mich. Zehn von den zwanzig Minuten, die er dort war, schaute er mit einem finsteren Ausdruck auf dem ebenmäßigen Gesicht in Mickeys Box.
Cass, der Futtermeister, war nicht immer unfreundlich, und da er wußte, daß ich den Nachmittag freihaben wollte, ging er sogar so weit, mir zu helfen, damit ich bis zum Mittagessen fertig war. Ich dankte ihm überrascht, und er meinte, er wisse schon, daß alle (ihn selbst ausgenommen) doppelt schwer ackern müßten, weil immer noch ein Mann fehle, und daß ich darüber nicht so gemeckert hätte wie die anderen. Den Fehler darf ich nicht zu oft begehen, dachte ich.
Ich wusch mich, so gut es die Umstände erlaubten — man mußte das Waschwasser in einem Kessel auf dem Herd heiß machen und es in die Schüssel auf dem marmornen Waschtisch schütten —, und rasierte mich sorgfältiger als sonst vor dem handgroßen, fliegenverdreckten Spiegelscherben, gedrängt von den anderen, die nach Posset wollten.
Für den Besuch in einem Frauencollege hatte ich nichts zum Anziehen. Seufzend entschied ich mich für den schwarzen Rolli, die anthrazitfarbene Röhrenhose und die schwarze Lederjacke. Kein Hemd, denn ich besaß keinen Schlips. Ich sah auf die spitzen Schuhe, doch da ich meinen Widerwillen dagegen nicht überwinden konnte, zog ich meine unter dem Wasserhahn im Hof geputzten Reitstiefel an. Die Klamotten hätten alle eine Reinigung vertragen können, und vermutlich roch ich nach Pferd, aber daran war ich so gewöhnt, daß es mir nicht auffiel.
Ich zuckte die Achseln. Es war nicht zu ändern. Ich packte mein Motorrad aus und düste nach Durham.
Elinors College lag in einer Allee neben anderen kompakten Bildungsstätten. Es hatte einen imposanten Vordereingang und eine weniger imposante, geteerte Einfahrt auf der rechten Seite. Ich nahm die Einfahrt und stellte mein Motorrad neben eine lange Reihe von Fahrrädern. Hinter den Rädern standen sechs oder sieben PKWs, darunter der kleine rote Zweisitzer von Elinor.
Zwei Stufen führten zu einer massiven Eichentür hinauf, an der das Wort» Studenten «prangte. Ich trat ein. Rechts an einem Pförtnertisch saß ein traurig aussehender Mann mittleren Alters, der auf eine Liste schaute.
«Entschuldigen Sie«, sagte ich.»Können Sie mir sagen, wo ich Lady Elinor Tarren finde?«
Er blickte auf und sagte:»Sind Sie zu Besuch? Werden Sie erwartet?«
«Ja«, sagte ich.
Er fragte nach meinem Namen und fuhr mit dem Finger die Liste entlang.»Daniel Roke für Miss Tarren, bitte hinaufführen. Ja, stimmt. Dann wollen wir mal. «Er stand auf, kam um seinen Schreibtisch herum und führte mich schwer atmend ins Gebäudeinnere.
Die Korridore waren so verschlungen, daß ein Führer durchaus zweckmäßig erschien. An den zahllosen Zimmertüren steckten in kleinen Metallrahmen Kärtchen mit den Namen der Bewohnerinnen oder mit Funktionsbezeichnungen. Nachdem wir zwei Stockwerke hinaufgestiegen und noch um ein paar Ecken gegangen waren, blieb der Pförtner vor einer der besagten Türen stehen.
«Bitte sehr«, sagte er mit unbeteiligter Stimme.»Hier wohnt Miss Tarren. «Er drehte sich um und stapfte zu seinem Posten zurück.
Auf dem Kärtchen an der Tür stand MISS E. C. TARREN. Ich klopfte an. Miss E. C. Tarren öffnete.
«Kommen Sie rein«, sagte sie. Kein Lächeln.
Ich trat ein. Sie schloß die Tür hinter mir. Ich blieb stehen und sah mir das Zimmer an. Ich war so an die ungemütliche Unterkunft bei Humber gewöhnt, daß ich mich auf einen Raum mit Vorhängen, Teppich, Polsterstühlen, Kissen und Blumen erst wieder einstellen mußte. Blau-und Grüntöne in verschiedenen Abstufungen herrschten vor, und eine Schale mit Osterglocken und roten Tulpen hob sich davon ab.
Ein großer Schreibtisch, auf dem Bücher und Papiere herumlagen; ein Bücherregal, ein Bett mit blauer Tagesdek-ke, ein Kl ei der schrank, ein großer Einbauschrank und zwei Sessel. Hier konnte man sich wohl fühlen. Vor allem gut arbeiten. Hätte ich mich meinen Gedanken überlassen, wäre ich sicher neidisch geworden: Der Tod meiner Eltern hatte mich um genau dies betrogen — die Zeit und die Möglichkeit zu studieren.
«Bitte nehmen Sie Platz. «Sie wies auf einen der Sessel.
«Danke. «Ich setzte mich, und sie nahm den Sessel mir gegenüber, sah mich aber nicht an. Ernst blickte sie zu Boden, und ich fragte mich bedrückt, ob sie mir von October nur wieder Unerfreuliches auszurichten hatte.
«Ich habe Sie hergebeten«, begann sie.»Ich habe Sie hergebeten, weil…«Sie unterbrach sich, stand plötzlich auf, trat hinter mich und versuchte es noch einmal.
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