«Ich habe Sie hergebeten«, sagte sie zu meinem Hinterkopf,»weil ich mich bei Ihnen entschuldigen muß, und das fällt mir nicht gerade leicht.«
«Entschuldigen?«fragte ich verblüfft.»Wofür denn?«
«Für meine Schwester.«
Ich stand auf und wandte mich zu ihr.»Bitte nicht«, sagte ich heftig. In den vergangenen Wochen war ich derart gedemütigt worden, daß mir nichts daran lag, jemand anderen gedemütigt zu sehen.
Sie schüttelte den Kopf.»Ich glaube«, sie schluckte,»ich glaube, daß meine Familie Sie sehr schlecht behandelt hat.«
Das silberblonde Haar schimmerte wie ein Heiligenschein in dem fahlen, durchs Fenster einfallenden Licht. Sie trug ein ärmelloses dunkelgrünes Kleid mit einem knallroten Pulli darunter. Starke Farben, starke Wirkung, und wenn ich sie weiter so ansah, wurde für sie alles noch schwieriger. Ich setzte mich wieder in den Sessel und sagte einigermaßen erleichtert, da sie mir offenbar doch keine Ohrfeige von October zu übermitteln hatte:»Bitte machen Sie sich darüber keine Gedanken.«
«Was denn sonst?«rief sie aus.»Ich wußte doch, weshalb Sie entlassen worden waren, und ich habe Vater mehr als einmal gesagt, er hätte Sie hinter Gitter bringen sollen, und jetzt erfahre ich, daß das alles gar nicht stimmt. Wie soll ich mir keine Gedanken machen, wenn alle meinen, Sie hätten sich einen bösen Übergriff erlaubt, und überhaupt nichts Wahres daran ist?«
Ihre Stimme war voller Anteilnahme. Es störte sie wirklich, daß jemand aus ihrer Familie sich so unfair verhalten hatte. Und es plagte ihr Gewissen, weil sie Pattys Schwester war. Ein sympathischer Zug — aber ich kannte sie ja schon als überaus nette Person.
«Woher wissen Sie das?«fragte ich.
«Patty hat es mir voriges Wochenende erzählt. Wir hatten mal wieder alles mögliche durchgehechelt. Von Ihnen wollte sie sonst nie reden, aber diesmal hat sie gelacht und mir alles einfach so erzählt, als wäre es nicht mehr wichtig. Ich weiß natürlich, daß sie, na ja, Erfahrung mit Männern hat. So ist sie nun mal. Aber das… da war ich doch geschockt. Ich konnte es erst gar nicht glauben.«
«Was hat sie Ihnen denn erzählt?«
Hinter mir war es still, dann kam ihre Stimme etwas zitternd wieder.»Sie sagte, sie habe Sie verführen wollen, aber Sie seien nicht darauf eingegangen. Sie habe sich Ihnen nackt gezeigt, und Sie hätten bloß gesagt, sie solle sich wieder anziehen. Sie habe eine solche Wut gehabt, daß sie den ganzen nächsten Tag überlegt habe, wie sie Ihnen das heimzahlen könne, und am Sonntag morgen sei sie dann in Tränen aufgelöst zu Vater gelaufen…«
«Na ja«, sagte ich gutgelaunt,»so kommt das den Tatsachen schon etwas näher. «Ich lachte.
«Das ist nicht komisch«, wandte sie ein.
«Nein. Ich bin nur erleichtert.«
Sie kam um den Sessel herum, setzte sich mir wieder gegenüber und sah mich an.»Es hat Sie also doch getroffen?«
Offenbar stand es in meinem Gesicht zu lesen.»Ja.«
«Ich habe Vater gesagt, daß sie gelogen hat. Sonst hatte ich ihm von ihren Liebschaften nie erzählt, aber das war etwas anderes… Jedenfalls weiß er seit Samstag mittag Bescheid. «Sie unterbrach sich, zögerte. Ich wartete. Und sie sprach weiter:»Es war schon seltsam. Als ob er gar nicht überrascht sei. Er fiel nicht wie ich aus allen Wolken. Er wirkte nur plötzlich sehr müde, als hätte er eine schlechte Nachricht erhalten. Als wäre nach langer Krankheit ein Freund gestorben, so eine Traurigkeit war das. Konnte ich mir nicht erklären. Und als ich sagte, der Gerechtigkeit halber müsse man Ihnen selbstverständlich Ihre Stelle wieder anbieten, war er strikt dagegen. Ich habe ihm zugeredet, aber er ist eisern. Er will auch Inskip nichts davon sagen, daß Sie zu Unrecht entlassen worden sind, und ich mußte ihm versprechen, daß ich weder Inskip noch sonst jemandem erzähle, was Patty mir gesagt hat. Das ist so unfair«, fuhr sie auf,»und ich fand, wenn es schon sonst keiner wissen darf, sollen wenigstens Sie es wissen. Auch wenn Sie nicht viel davon haben, daß mein Vater und ich jetzt die Wahrheit kennen, wollte ich Ihnen einfach sagen, daß es mir sehr, sehr leid tut, was meine Schwester getan hat.«
Ich lächelte sie an. Es fiel mir nicht schwer. Ihr Haar und ihr Teint waren so blendend schön, da spielte es keine Rolle, daß ihre Nase nicht ganz gerade war. In den ehrlichen grauen Augen lag tiefes Bedauern, und ich wußte, daß sie Pattys Fehlverhalten um so schwerer nahm, als sie dachte, der Leidtragende sei ein Pferdepfleger, der sich in solchen Dingen nicht wehren könne. Auch deshalb war eine Antwort schwierig.
Mir war natürlich klar, daß October, selbst wenn er es wider Erwarten gewollt hätte, mich nicht für unschuldig erklären und von jedem Verdacht freisprechen konnte, ohne Gefahr zu laufen, daß Humber davon erfuhr, und nichts hätte uns weniger ins Konzept gepaßt, als wenn er mir die Stelle bei Inskip wieder hätte antragen müssen. Kein Mensch, der zu Inskip gehen konnte, wäre bei Humber geblieben.
«Wenn Sie wüßten«, sagte ich langsam,»wie sehr ich mir gewünscht habe, Ihr Vater würde mir glauben, daß ich Ihre Schwester nicht angerührt habe, dann würden Sie verstehen, daß mir das, was Sie gerade gesagt haben, zehnmal wichtiger ist, als wo ich arbeite. Ich kann Ihren Vater gut leiden. Ich achte ihn. Und er hat ganz recht. Er kann mich nicht wieder einstellen, weil er damit quasi öffentlich zugeben würde, daß seine Tochter zumindest eine Lügnerin ist, wenn nicht gar Schlimmeres. Das können Sie nicht von ihm verlangen, nicht von ihm erwarten. Ich tue es auch nicht. Am besten läßt man alles, wie es ist.«
Sie sah mich eine Weile schweigend an. Ich meinte, Erleichterung in ihrem Gesicht zu sehen, auch Verwunderung und schließlich Verwirrung.
«Wollen Sie denn gar keine Wiedergutmachung?«
«Nein.«
«Ich verstehe Sie nicht.«
«Hören Sie«, sagte ich und stand auf, um mich ihren neugierigen Blicken zu entziehen,»so ganz schuldlos bin ich auch nicht. Ich habe Ihre Schwester geküßt. Ich habe sie wohl auch erst mal ermutigt. Dann habe ich mich geschämt und einen Rückzieher gemacht, wenn Sie die Wahrheit wissen wollen. Es war nicht allein ihr Fehler. Ich habe schon Mist gebaut. Machen Sie sich also meinetwegen bitte keinen Kopf. «Ich blieb am Fenster stehen und sah hinaus.
«Für Morde, die man bleiben läßt, sollte man nicht gehängt werden«, meinte sie trocken.»Sie sind sehr großzügig, und damit habe ich nicht gerechnet.«
«Dann hätten Sie mich nicht herbitten dürfen«, sagte ich nachdenklich.»Dafür war das Risiko zu groß.«
«Was für ein Risiko?«
«Daß ich Stunk machen, die Familie bloßstellen, den Ruf der Tarrens beflecken würde. Körbe voll schmutziger Wäsche für die Sonntagszeitungen, schwerer Gesichtsverlust für Ihren Vater gegenüber seinen Geschäftsfreunden.«
Sie sah mich erschrocken, aber auch entschlossen an.
«Trotzdem — Ihnen war Unrecht geschehen, und das mußte ins reine gebracht werden.«
«Ohne Rücksicht auf Verluste?«
«Ohne Rücksicht auf Verluste«, wiederholte sie leise.
Ich lächelte. Eine Frau ganz nach meinem Herzen. Auch ich hatte mich um Verluste wenig geschert.
«Gut«, sagte ich zögernd,»dann will ich Sie nicht länger stören. Es hat mich sehr gefreut. Sicher war es alles andere als einfach für Sie, sich zu dem Gespräch zu entschließen, und ich bin Ihnen dafür dankbarer, als ich sagen kann.«
Sie sah auf die Uhr und zögerte ebenfalls.»Es ist zwar nicht gerade die Zeit dafür, aber möchten Sie einen Kaffee? Ich meine, Sie sind so weit gefahren…«
«Gern«, sagte ich.
«Gut… setzen Sie sich, ich mache uns einen.«
Ich setzte mich wieder. Sie öffnete den Einbauschrank, der auf einer Seite ein Waschbecken mit Spiegel, auf der anderen einen Gasbrenner und ein Geschirrbord enthielt. Mit eleganten, sparsamen Bewegungen setzte sie Wasser auf und stellte Kaffeegeschirr auf den niedrigen Tisch zwischen den beiden Sesseln. Unbefangen, dachte ich. Selbstbewußt genug, um an einem Ort, wo Denkvermögen über Herkunft ging, ihren Titel beiseite zu lassen. Selbstbewußt genug, um einen Mann von meinem Aussehen auf ihr Zimmer kommen zu lassen und ihm ohne Not, rein aus Höflichkeit, einen Kaffee anzubieten.
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