Wir kurvten weiter, bis die paradierenden Schildbürger wieder in Sicht kamen.
«Nach Stratton Hays«, sagte Dart,»geht’s geradeaus am Tor vorbei. Es ist nicht weit. Grenzt an das Rennbahngelände. Möchten Sie es sehen? Da hat ja Ihre Mutter auch mit Keith gewohnt. Da hat sie Hannah zurückgelassen.«
Ich blickte auf meine Uhr, doch die Neugier war stärker als das väterliche Verantwortungsgefühl. Ich sagte, es würde mich sehr interessieren, und wir fuhren hin.
Stratton Hays war alles, was Conrads Haus nicht war, ein in sich geschlossener alter Palast nach Art eines kleineren Hardwicke Hall. Ausgewogene Proportionen in Stein und Glas, mit leichter Hand gebaut im Goldregen der elisabethanischen Ära. Es sah noch genauso aus wie vor fast vier Jahrhunderten und ganz gewiß so wie vor vierzig Jahren, als meine Mutter dort als Braut eingezogen war.
Da sie ihr ganzes Leid in seine Mauern projiziert und» das Stratton-Haus «als einen seelenlosen Bunker bezeichnet hatte, war ich auf seine anmutige Pracht nicht vorbereitet. Auf mich wirkte es freundlich und einladend.
«Mein Ururgroßvater hat das Schloß gekauft«, sagte Dart leutselig,»da er es als standesgemäßen Sitz für einen frisch ernannten Baron ansah. Die erste Baronin fand es nachweislich nicht edel genug. Sie wollte palladianische Säulen, Ziergiebel und Portiken.«
Auch dieses Haus betraten wir durch einen unauffälligen Nebeneingang, und wieder gelangten wir in eine schwarzweiße, doch diesmal mit Marmor ausgelegte Halle. Viel Raum zwischen den Möbeln, keine Vorhänge an den hohen Fenstern, und wie meine Mutter gesagt hatte, lag der Atem vergangener Generationen in der Luft.
«Keith hat den Westkorridor oben bewohnt«, sagte Dart, während er eine breite Treppe hinaufstieg.»Nach der Scheidung von Ihrer Mutter hat er wieder geheiratet, und Großvater bat ihn, sich mit seiner neuen Frau und Hannah eine andere Wohnung zu suchen. Da war ich natürlich noch nicht geboren. Keith wollte anscheinend nicht wegziehen, aber Großvater bestand darauf.«
Dart überquerte einen großen, unmöblierten Flur und bog um die Ecke auf einen langen, breiten Gang mit dunklem Holzboden, karminrotem Läufer und einem hohen Fenster am anderen Ende.
«Der Westkorridor«, sagte Dart.»Alle Türen sind offen. Die Zimmer werden einmal im Monat entstaubt. Sie können sich gern umschauen.«
Ich sah mich mit einem gewissen Unbehagen um. Hier hatte meine Mutter Schläge über sich ergehen lassen und das, was man heute Vergewaltigung in der Ehe nennt. In ihrem Schlafzimmer war die Zeit stehengeblieben. Mir schauderte.
Ein Ankleideraum, ein Damen-, ein Arbeits- und ein Wohnzimmer lagen ebenfalls an diesem Gang. Ein viktorianisches Bad und eine Küche neueren Datums nahmen den Raum ein, der vermutlich einmal ein zweites Schlafzimmer gewesen war. Von einem Kinderzimmer keine Spur.
Ich kehrte zu Dart zurück und dankte ihm.
«Gab es hier nie Vorhänge?«fragte ich.
«Die sind verrottet«, sagte Dart.»Großvater hat sie rausgeschmissen und wollte nicht, daß Großmama neue aufhängt. «Er ging auf die Treppe zu.»Die Großeltern haben im Ostkorridor gewohnt. Der ist genauso angelegt, aber komplett eingerichtet. Teppiche, Vorhänge, richtig nett. Alles ausgesucht von Großmama. Es kommt einem sehr leer vor, jetzt wo sie beide nicht mehr sind. Abends habe ich oft mit Großvater dort im Wohnzimmer zusammengesessen, aber jetzt halte ich mich da kaum noch auf.«
Wir gingen die Treppe hinunter.
«Wo wohnen Sie denn?«fragte ich.
«Das Haus ist E-förmig«, sagte er.»Ich habe das Erdgeschoß im Südflügel. «Er wies auf einen breiten Gang, der von der Vorhalle abging.»Vater hat das Haus geerbt, aber er und Mutter wollen hier nicht wohnen. Es ist ihnen zu groß. Jetzt verhandle ich mit Vater wegen eines Mietvertrages. Keith will mich raushaben, weil er rein möchte — zum Teufel mit ihm.«
«Der Unterhalt muß ein Vermögen kosten«, bemerkte ich.
«Der Nordflügel hat kein Dach«, sagte er.»Es ist absurd, aber wenn ein Teil des Hauses unbewohnbar ist, kostet es weniger Steuern. Das Dach da hätte erneuert werden müssen, aber es war wirtschaftlicher, die Bedachung ganz zu entfernen und das Wetter darauf loszulassen. Der Nordflügel ist hin. Die Außenwände sehen noch ganz gut aus, aber das täuscht.«
Ich würde bald wiederkommen, dachte ich, und mir, wenn ich durfte, den verfallenen Flügel einmal ansehen, doch im Augenblick ging es mir nur darum, die Gardners von ihrem ausgedehnten Babysitting zu erlösen.
Dart fuhr mich freundlicherweise die anderthalb Kilometer zurück zum Haupteingang der Rennbahn, wo uns ein massiger Mann mit Bart und Strickmütze die Zufahrt versperrte, indem er uns vor den Wagen lief. Dart fluchte, und es blieb ihm nichts anderes übrig, als mit einem Ruck anzuhalten.
«Das haben die schon mal gemacht«, sagte er.»Sie haben Tante Marjorie auf dem Weg zur Hauptversammlung aufgehalten. Und Vater und Keith auch. Die waren sauer.«
Da Roger Gardner mich über einen hinteren Eingang zu sich dirigiert hatte, war mir der Spießrutenlauf erspart geblieben. Die Jungen hätten von der sicheren hohen Warte des Busses aus bestimmt Spaß daran gehabt.
Der Bärtige trug ein Plakat mit der roten Aufschrift PFERDERECHTE GEHEN VOR. Er blieb stur vor dem Wagen stehen, während eine Frau mit scharfgeschnittenem Gesicht auf Darts Seite ans Fenster klopfte und ihm bedeutete, es herunterzudrehen. Als Dart sich standhaft weigerte, schrie sie uns ihre Parole zu, nämlich daß alle Menschen, die mit dem Rennsport zu tun hatten, Mörder seien. Ihre dünnen, angespannten Züge erinnerten mich lebhaft an Rebecca, und ich fragte mich, was bei ihnen beiden wohl zuerst kam, die Neigung, sich in etwas zu verbeißen, oder der Glaube ans gesteckte Ziel.
Sie trug ein schwarz gerändertes Plakat mit der unheilvollen Losung TOD DEN RENNBAHNBESUCHERNund erhielt Verstärkung durch eine fröhlicher gestimmte Frau, deren Botschaft-am-Stiel lautete: LASST DIE PFERDE FREI.
Jemand klopfte energisch an das Fenster auf meiner Seite, und als ich mich umdrehte, blickte ich direkt in die blitzenden Augen eines fanatischen jungen Mannes, der den glühenden Eifer eines Apostels an den Tag legte.
«Mörder«, schrie er und wedelte mir mit dem vergrößerten Foto eines Pferdes, das tot neben weißen Rails lag, vor dem Gesicht herum.»Mörder«, schrie er noch einmal.
«Die spinnen doch«, meinte Dart unbekümmert.
«Sie amüsieren sich.«
«Arme Tröpfe.«
Die ganze Empörertruppe hatte sich jetzt um den Wagen geschart, begnügte sich aber mit bösen Blicken und verzichtete auf Tätlichkeiten. Ihr Engagement ging nicht so weit, daß sie uns das Fell gerben wollten. Auf jeden Fall konnten sie sich nachher in dem Gefühl sonnen, ihre Fürsorglichkeit bewiesen zu haben. Ihnen allein würde es nicht gelingen, eine Industrie stillzulegen, die über das sechstgrößte Arbeitskräftepotential im Land gebot, doch um so ungefährlicher fanden sie es wahrscheinlich, dagegen anzugehen.
Bis jetzt, dachte ich beim Anblick ihrer zornig engagierten Gesichter, waren sie noch nicht in die Fänge professioneller Aufwiegler geraten. Vielleicht eine Frage der Zeit.
Dart hatte die Nase voll und ließ sein Auto zentimeterweise vorwärtsrollen. Der bärtige Bremsklotz stemmte sich gegen die Haube. Dart bedeutete ihm, sich zu entfernen. Der Bremser schüttelte die Faust und blieb, wo er war. Dart legte gereizt die Hand auf die Hupe, und der Bremser sprang wie elektrisiert zur Seite. Dart rollte langsam weiter. Die Plakatträgerin stelzte ein paar Schritte neben uns her, blieb jedoch abrupt stehen, als wir das Tor durchquerten. Offenbar hatte sie jemand über unbefugtes Betreten belehrt.
«Wie lästig«, sagte Dart und beschleunigte.»Was glauben Sie, wie lange die das durchziehen?«
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