«Das ist ein Brief von den Stratton-Park-Anwälten«, sagte sie und setzte eine Lesebrille auf.»Die Einleitung erspare ich euch. Der Kern der Sache ist folgender. «Sie hielt inne, warf einen Blick auf ihre aufmerksamen, beunruhigten Zuhörer und las dann aus dem Brief vor.»Da zwei Vorstandsmitglieder genügen, war es völlig korrekt, daß der bisherige Vorstand nur aus Ihnen selbst und Lord Stratton bestand und daß er als Inhaber der weitaus meisten Anteile sämtliche Entscheidungen allein traf. Sollten Sie nach seinem Tod nun die Bildung eines neuen Vorstands mit mehr Mitgliedern erwägen, so können, aber müssen diese nicht zugleich Angehörige der Familie Stratton sein; auch außenstehende Personen, ob Anteilseigner oder nicht, sind wählbar. Wir empfehlen Ihnen daher, eine außerordentliche Hauptversammlung zur Wahl des neuen, erweiterten Vorstands der Stratton Park Rennbahn GmbH einzuberufen, und werden Ihnen dabei gern in jeder Beziehung behilflich sein.«
Marjorie Binsham blickte auf.»Die Anwälte waren bereit, die heutige Versammlung durchzuführen. Ich sagte ihnen, damit käme ich schon allein zurecht. Als einziges noch amtierendes Vorstandsmitglied stelle ich den Antrag, neue Mitglieder in den Vorstand zu wählen, und als Vorstandsmitglied unterstütze ich ebendiesen Antrag, und obwohl dies vielleicht nicht ganz das korrekte Verfahren ist, wird es seinen Zweck erfüllen.«
«Tante…«:, protestierte Conrad halbherzig.
«Da du, Conrad, jetzt das nominelle Oberhaupt der Familie bist, schlage ich vor, daß du sofort auch Vorstandsmitglied wirst. «Sie schaute auf den Brief.»Hier steht, daß ein Kandidat als gewählt gilt, wenn er mindestens fünfzig Prozent der bei einer Hauptversammlung abgegebenen Stimmen erhält. Bei uns hat jeder Anteil eine Stimme. Diesem Brief zufolge macht das, wenn ich und alle Erben der Familiengesellschaft anwesend sind, fünfundachtzig Stimmen — meine zehn und die fünfundsiebzig, die jetzt auf euch entfallen. «Sie schwieg und blickte den Tisch hinunter zu meinem Platz.»Mit Mr. Morris haben wir zwar nicht gerechnet, aber da er hier ist, kann er acht Stimmen abgeben.«
«Nein!«sagte Keith wütend.»Dazu hat er kein Recht.«
Marjorie Binsham blieb fest.»Er hat acht Stimmen. Die darf er abgeben. Daran kannst du nichts ändern.«
Ihre Entscheidung überraschte mich ebenso, wie sie die anderen verblüffte. Ich war zum Teil aus Neugierde hierhergekommen, vielleicht auch mit dem Hintergedanken, sie ein wenig zu ärgern, aber bestimmt nicht in der Absicht, sie derart aus dem Gleichgewicht zu bringen.
«Das ist doch unerhört«, schrie Hannah und sprang unwillkürlich auf wie ihr noch immer hin und her gehender Vater.
«Das laß ich mir nicht bieten!«
«Laut unseren Anwälten«, fuhr ihre Großtante fort, ohne den Ausbruch zu beachten,»hat, wenn er erst einmal gewählt ist, der Vorstand über die Zukunft der Rennbahn zu entscheiden.«
«Wählt mich in den Vorstand«, verlangte Rebecca.
«Du brauchst siebenundvierzig Stimmen«, murmelte Dart, der ein wenig gerechnet hatte.»Jeder Kandidat braucht mindestens siebenundvierzig Stimmen.«
«Ich schlage vor, daß wir als erstes Conrad wählen«, hakte Marjorie nach.»Meine zehn Stimmen hat er. «Sie schaute sich um, ob jemand wagte, ihr die Stirn zu bieten.
«Okay«, sagte Ivan,»Conrad, du hast meine einundzwanzig.«
«Ich darf wohl auch für mich selber stimmen«, sagte Conrad.»Und ich habe einundzwanzig. Das macht, äh, zweiundfünfzig.«
«Gewählt«, sagte Marjorie und nickte.»Von jetzt an kannst du die Versammlung leiten.«
Conrad gewann gleich wieder an Selbstvertrauen und warf sich buchstäblich in die Brust, um seine neue Rolle auszufüllen. Er sagte freundlich:»Dann sollten wir auch dafür stimmen, daß Marjorie im Vorstand bleibt. Nur recht und billig.«
Niemand stellte sich quer. Die Ehrenwerte Mrs. Binsham sah aus, als hätte sie jeden Abweichler zum Frühstück verspeist.
«Ich gehöre auch in den Vorstand«, machte Keith geltend.»Und auch ich habe einundzwanzig Stimmen. Die gebe ich mir.«
Conrad räusperte sich.»Ich schlage Keith als Vorstandsmitglied vor.«
Forsyth sagte schnell:»Das gibt doch nur Ärger.«
Conrad, der es nicht hörte oder aber geflissentlich überhörte, eilte weiter im Text.»Die einundzwanzig von Keith also und die von mir. Zweiundvierzig. Tante?«
Marjorie schüttelte den Kopf. Keith machte mit ausgestreckten Händen drei rasche Schritte auf sie zu, als wollte er sie angreifen. Sie verzog keine Miene und wich nicht zurück. Sie starrte ihn an, bis er wegschaute.
Kühl sagte sie:»Das ist genau der Grund, weshalb ich nicht für dich stimme, Keith. Du konntest dich noch nie beherrschen, und du hast nichts dazugelernt. Seht euch anderweitig um. Fragt Mr. Morris.«
Eine boshafte alte Dame, merkte ich. Keith bekam einen knallroten Kopf. Dart grinste.
Keith ging zu Ivan und stellte sich hinter ihn.»Bruder«, sagte er im Befehlston,»ich brauche deine einundzwanzig Stimmen.«
«Aber hör mal«, zauderte Ivan,»Tante Marjorie hat doch recht. Du würdest dich ständig mit Conrad anlegen. Es kämen überhaupt keine brauchbaren Beschlüsse zustande.«
«Du lehnst mich ab?« Keith konnte es kaum glauben.»Das wirst du bereuen, damit du’s weißt. Das wird dir leid tun.«
Das Gewalttätige in ihm war selbst für seine Tochter Hannah zu nah an die Oberfläche gekommen, die sich wieder auf ihren Platz hatte fallen lassen und jetzt unbehaglich sagte:»Pa, laß ihn doch. Du kannst meine drei Stimmen haben. Beruhige dich.«
«Das wären fünfundvierzig«, sagte Conrad.»Du brauchst noch zwei, Keith.«»Rebecca hat drei«, sagte Keith.
Rebecca schüttelte den Kopf.
«Also Forsyth«, sagte Keith wütend, zumindest aber nicht bettelnd.
Forsyth schaute auf seine Finger.
«Dart?« Keith bebte vor Zorn.
Dart warf einen Blick auf seinen schwitzenden Onkel und hatte Erbarmen mit ihm.
«Na schön«, meinte er, als ob nichts dabei wäre.»Meine drei.«
Ohne sonderliche Regung sagte Conrad in der Ruhe nach dem Sturm:»Keith ist gewählt.«
«Und der Fairneß halber«, sagte Dart,»schlage ich auch noch Ivan vor.«
«Wir brauchen keinen Vierervorstand«, sagte Keith.
«Da ich für dich gestimmt habe«, erklärte ihm Dart,»könntest du im Gegenzug so nett sein und für Ivan stimmen. Schließlich hat er einundzwanzig Anteile, genau wie du, und damit auch das gleiche Recht, Entscheidungen zu treffen. Also, Vater«, wandte er sich an Conrad,»ich schlage Ivan vor.«
Conrad bedachte den Vorschlag seines Sohnes und zuckte die Achseln — nicht aus Mißbilligung, nahm ich an, sondern weil er keine allzu hohe Meinung von der Intelligenz seines Bruders hatte.
«Also gut. Jemand dagegen?«
Alle schüttelten die Köpfe, Marjorie eingeschlossen.
«Mr. Morris?«fragte Conrad steif.
«Ich stimme für ihn.«
«Einstimmig gewählt«, sagte Conrad überrascht.»Sonst noch Kandidaten?«
Rebecca sagte:»Vier ist eine ungünstige Zahl. Es sollten fünf sein. Noch jemand von der jüngeren Generation.«
Sie schlug sich wieder selber vor. Niemand, nicht einmal Dart, ging darauf ein. Rebeccas schmales Gesicht war auf seine Art so gemein wie das von Keith. Keiner von den vier Enkeln gedachte einem anderen Macht zu verleihen. Die drei älteren Brüder wollten nichts von ihrer Macht abgeben. In einer Atmosphäre unterschwelliger Gehässigkeit und Bosheit wurden die drei Söhne des alten Lords und ihre langlebige Tante als neuer Vorstand eingesetzt.
Sie einigten sich ohne Schwierigkeiten auf Conrad als Vorstandsvorsitzenden (»Steuerwann«, vermerkte Rebecca.»Sei nicht albern«, sagte Keith), aber Marjorie hatte noch einen Schuß in petto.
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