Ich schloß leise die Tür hinter mir.»Sie haben mir eine Mitteilung geschickt«, sagte ich.
«Ja, aber — «, sagte Conrad abwehrend.»Ich meine, es war doch nicht nötig… Sie hätten nicht extra zu kommen brauchen. «Er schwieg betreten und schien außerstande, seine Bestürzung zu verbergen.
«Da ich schon mal hier bin«, sagte ich liebenswürdig,»kann ich doch ebensogut auch bleiben. Darf ich hier Platz nehmen?«Ich wies auf einen freien Stuhl am Fuß des Tisches und ging entschlossen darauf zu.»Wir kennen uns zwar noch nicht, aber Sie müssen Conrad, Lord Stratton sein.«
Er sagte verkniffen:»Ja.«
Einer der älteren Herren brauste auf:»Das ist doch unerhört! Sie haben hier nichts zu suchen. Nicht an diesem Tisch. Gehen Sie!«
Ich blieb an dem freien Platz stehen und zog den Anwaltsbrief hervor.»Wie Sie daraus ersehen können«, antwortete ich freundlich,»bin ich Anteilseigner. Ich wurde ordnungsgemäß auf die heutige Versammlung hingewiesen, und es tut mit leid, wenn Ihnen das nicht paßt, aber ich bin teilnahmeberechtigt. Ich werde ganz still sein und zuhören.«
Ich setzte mich. Nackte Mißbilligung spiegelte sich auf sämtlichen Gesichtern; nur bei einem aus der Runde, einem jüngeren Mann, war der Anflug eines Lächelns zu erkennen.»Conrad! Das ist doch lachhaft. «Der Mann, den mein Erscheinen am meisten störte, war aufgestanden und zitterte vor Wut.»Sieh zu, daß er verschwindet.«
Conrad Stratton schätzte nüchtern meine Statur und mein Alter ab und sagte resigniert:»Setz dich hin, Keith. Wer soll ihn denn wohl hinausbefördern?«
Keith, der erste Mann meiner Mutter, war seinerzeit vielleicht stark genug gewesen, eine unglückliche junge Frau zu verprügeln, aber gegen ihren fünfunddreißig Jahre alten Sohn hatte er nicht die geringste Chance. Er konnte nicht ertragen, daß es mich gab. Mich widerte an, was ich von ihm wußte. Unsere Abneigung war gegenseitig, intensiv und endgültig.
Die blonden Haare von den Hochzeitsfotos waren etwas grau geworden. Der hohe Wuchs verlieh ihm immer noch ein vornehmeres Aussehen als seinem älteren Zwillingsbruder. Sein Spiegel sagte ihm wahrscheinlich Tag für Tag, daß bei der Reihenfolge ihrer Geburt ein fürchterliches Mißgeschick passiert war; daß sein Kopf als erster ans Licht hätte kommen müssen.
Er konnte nicht stillhalten. Mit langen Schritten ging er durch den Saal, warf ab und zu den Kopf in meine Richtung und funkelte mich an.
Wichtige Herrschaften, vielleicht der erste und der zweite Baron, schauten ungerührt aus vergoldeten Rahmen an der Wand auf uns herunter. Die Deckenbeleuchtung bestand aus spiralförmigen Messinglüstern mit Schirmchen aus geätztem Glas über den Kerzenlampen. Auf einem langen, blanken Mahagonibüfett stand eine gedrungene Tischuhr, flankiert von bauchigen alten Vasen, die, wie der Raum als ganzes, den Eindruck vermittelten, als hätte der alte Lord seine bewahrende Hand über sie gehalten.
Tageslicht gab es nicht: keine Fenster.
Neben Conrad saß kerzengerade eine alte Dame, die unschwer als seine Tante Marjorie Binsham, die Initiatorin der Versammlung, auszumachen war. Vor vierzig Jahren, bei der Hochzeit meiner Mutter, hatte sie so grimmig in die Kamera gestarrt, als würde ein Lächeln ihr die Gesichtsmuskeln zerreißen, und auch in dieser Hinsicht hatte sich in all den Jahren anscheinend nichts geändert. Jetzt war sie weit über achtzig, und ihre säuberlich gewellten Haare waren weiß und ihr Verstand unvermindert scharf. Sie trug ein schwarz und rot gemustertes Kleid mit einem weißen Kragen wie ein Beffchen.
Zu meiner gelinden Überraschung betrachtete sie mich eher interessiert als mit grundsätzlicher Abneigung.
«Mrs. Binsham?«sagte ich vom anderen Tischende her.»Mrs. Marjorie Binsham?«
«Ja. «Das Wort kam knapp und trocken, lediglich als Bestätigung.
«Ich«, sagte der Mann, der sein Lächeln jetzt füglich im Zaum hielt,»bin Darlington Stratton, kurz Dart genannt. Mein Vater sitzt am Kopf des Tisches. Zu Ihrer Rechten meine Schwester Rebecca.«
«Das kannst du dir sparen!«fuhr ihn Keith von irgendwo hinter Conrad an.»Die Vorstellung ist überflüssig. Er geht.«
Mrs. Binsham sagte gebieterisch und in ihrem feinen Englisch:»Nun hör schon auf herumzuschleichen, Keith, und setz dich hin. Mr. Morris ist einwandfrei berechtigt, dieser Versammlung beizuwohnen. Finde dich damit ab. Da du ihn nicht hinausbefördern kannst, ignorier ihn halt.«
Mrs. Binsham hielt ihren Blick nicht auf Keith, sondern auf mich gerichtet. Unwillkürlich zuckten meine Lippen. Mich zu ignorieren war sicher das letzte, was irgendeinem hier gelingen würde.
Dart sagte mit ernstem Gesicht, den Schalk aber faustdick im Nacken:»Kennen Sie schon Hannah, Ihre Schwester?«
Die Frau zu Conrads Linker, gegenüber Mrs. Binsham, bebte vor Abscheu.»Er ist nicht mein Bruder.«
«Halbbruder«, verwies Marjorie Binsham wieder strikt auf die Tatsachen.»So unangenehm es dir sein mag, Hannah, du kannst es nicht ändern. Ignorier ihn halt.«
Hannah war es ebenso unmöglich wie Keith, diesen Rat zu befolgen. Zu meiner Erleichterung sah meine Halbschwester unserer gemeinsamen Mutter nicht ähnlich. Denn davor hatte ich Angst gehabt — daß Haß mir aus vertrauten Augen, aus dem Abbild eines geliebten Gesichts entgegenschlagen könnte. Sie kam mehr auf Keith hinaus: groß, blond, feingliedrig und im Augenblick zutiefst empört.
«Wie können Sie nur!«Sie bebte.»Haben Sie kein Ehrgefühl?«
«Ich habe Anteile«, hob ich hervor.
«Die Ihnen nicht zustehen«, sagte Keith scharf.»Wieso Vater die Madeline gegeben hat, werde ich nie begreifen.«
Ich sparte mir den Hinweis, daß er sich darüber völlig im klaren sein mußte. Lord Stratton hatte seiner Schwiegertochter Madeline Anteile übereignet, weil er wußte, weshalb sie fortging. Nach dem Tod meiner Mutter hatte ich unter ihren Papieren alte Briefe ihres Schwiegervaters gefunden, in denen er sein Bedauern und seine Wertschätzung ausdrückte, vor allem aber auch seine Bereitschaft, dafür zu sorgen, daß sie nach den Mißhandlungen, die sie erduldet hatte, nicht auch noch finanziell zu leiden brauchte. Nach außen hatte er sich zwar hinter seinen Sohn gestellt, aber unter der Hand,»für die Zukunft«, hatte sie nicht nur die Anteile von ihm bekommen, sondern außerdem eine Abfindung, von deren Zinsen sie gut leben konnte. Dafür hatte sie versprochen, über Keiths Verhalten niemals ein Wort zu verlieren und schon gar nicht den Namen der Familie in einen schmutzigen Scheidungskrieg hineinzuziehen. Der alte Herr schrieb, er habe Verständnis dafür, daß sie Hannah, das Ergebnis der» sexuellen Übergriffe «seines Sohnes, zurückweise. Er selbst werde für das Kind sorgen. Er wünschte meiner Mutter,»daß sich alles für Sie zum Besten wendet, meine Liebe«.
Keith hatte sich dann schließlich von meiner Mutter scheiden lassen — wegen Ehebruchs mit einem älteren Kinderbuchillustrator, Leyton Morris, meinem Vater. Die glückliche Ehe, die darauf folgte, hielt fünfzehn Jahre, und erst, als meine Mutter unheilbar an Krebs erkrankt war, sprach sie von den Strattons und erzählte halbe Nächte hindurch, was sie gelitten und wie sehr sie Lord Stratton gemocht hatte. Da erst erfuhr ich, daß meine Erziehung und Ausbildung, mein Architekturstudium, kurz, die Grundlagen meiner Existenz, mit Lord Strattons Geld finanziert worden waren.
Nach ihrem Tod hatte ich ihm aus Dankbarkeit geschrieben, und ich verwahrte noch immer seine Antwort.
Mein lieber junger Mann, ich war Ihrer Mutter herzlich zugetan. Sie haben ihr hoffentlich die Freude geschenkt, die sie verdient hat. Ich bedanke mich für Ihren Brief, doch schreiben Sie mir bitte nicht mehr.
Stratton
Ich schrieb ihm nicht mehr. Ich schickte Blumen zu seinem Begräbnis. Wäre er noch am Leben gewesen, hätte ich mich seiner Familie niemals aufgedrängt.
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