Sergio fragte nicht, ob er nüchtern geblieben war. Was Nate sagte, klang eindrucksvoll und ganz so, als wisse er, was er wollte. Nate gab Sergio die Telefonnummer des Hauses, in dem er wohnen würde, und sie verabredeten, demnächst einmal gemeinsam zum Mittagessen zu gehen.
Dann rief er seinen ältesten Sohn an, der in Evanston an der Northwestern University studierte, und hinterließ eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter. Wo hielt sich ein dreiundzwanzig-jähriger Student an einem Sonntagmorgen um sieben auf? In der Frühmesse bestimmt nicht. Nate wollte es aber gar nicht so genau wissen. Was auch immer sein Sohn gerade tat, er würde sein Leben mit Sicherheit nicht so verpfuschen wie sein Vater. Seine Tochter war einundzwanzig Jahre alt und studierte, wie sie gerade Lust hatte, an der Pitt University. Bei ihrem letzten Gespräch, einen Tag bevor Nate mit einer Flasche Rum und einem Sack voll Tabletten in das bewusste Motelzimmer gezogen war, war es um ihre Studiengebühren gegangen.
Er konnte ihre Telefonnummer nicht finden.
Die Mutter seiner älteren Kinder hatte seit der Trennung von Nate zweimal wieder geheiratet. Da er sie nicht außtehen konnte, rief er sie nur an, wenn es gar nicht anders ging. Er nahm sich vor, einige Tage zu warten und sie dann um Kaitlins Telefonnummer zu bitten.
Er war entschlossen, die beschwerliche Reise nach Oregon im Westen zu unternehmen, um zumindest seine beiden Jüngsten zu besuchen. Auch deren Mutter hatte wieder geheiratet, erstaunlicherweise wieder einen Anwalt, der aber, wie es aussah, ein einwandfreies Leben führte. Nate wollte die Kinder um Verzeihung bitten und versuchen, eine neue Beziehung anzuknüpfen. Er wusste selbst nicht, wie er das bewerkstelligen sollte, nahm sich aber fest vor, den Versuch zu unternehmen.
In Annapolis hielt er an einer Imbissstube an, um zu frühstücken. Er hörte zu, wie einige Stammgäste in einer Sitznische lautstark die Wetteraussichten kommentierten, und überflog gedankenlos die Washington Post. Weder in den Schlagzeilen noch in den letzten Meldungen der Zeitung fand er etwas, das ihn auch nur im geringsten interessiert hätte. Es ging immer um dasselbe: Unruhen im Nahen Osten, Unruhen in Nordirland; Skandale im Kongress; die Aktienkurse stiegen und fielen; ein Ölteppich bedrohte das Leben im Meer; ein neues Heilmittel gegen Aids; Guerillakrieger brachten Bauern in Lateinamerika um; Chaos in Russland.
Seine Hose war ihm zu weit geworden, also aß er drei Eier mit Speck und Toast. In der Sitznische herrschte vage Übereinstimmung, dass noch mehr Schnee in der Luft lag.
Er fuhr über die Chesapeake Bay Bridge. Da die Straßen am östlichen Ufer der Bucht nicht gut geräumt waren, geriet der Jaguar zweimal ins Rutschen. Er nahm Gas weg. Der Wagen war ein Jahr alt, und er wusste nicht mehr, wann der Leasingvertrag auslief. Seine Sekretärin hatte allen Papierkram für ihn erledigt; er hatte die Farbe ausgesucht. Er beschloss, den Wagen so schnell wie möglich abzustoßen und sich ein gebrauchtes Auto mit Allrad-Antrieb zuzulegen. Früher einmal war ihm der flotte Anwaltswagen wichtig gewesen, jetzt brauchte er ihn nicht mehr.
Bei Easton bog er auf die State Route 33 ein. Der Schnee lag noch fünf Zentimeter hoch. Nate folgte den Spuren anderer Fahrzeuge und kam bald durch verschlafene kleine Ortschaften mit Häfen voller Segelboote. Das Ufer der Bucht war mit hohem Schnee bedeckt; das Wasser war tiefblau.
In St. Michaels wurde die State Route 33 für einige hundert Meter zur Hauptstraße. Zu beiden Seiten lagen Geschäfte und standen guterhaltene alte Häuser; jedes von ihnen ein Postkartenmotiv.
Den Namen St. Michaels kannte Nate schon, solange er sich erinnern konnte. In diesem Städtchen mit einer Bevölkerungszahl von eintausenddreihundert Seelen und einem geschäftigen Segelboothafen gab es ein Meeresmuseum und Dutzende niedlicher Pensionen, die an langen Wochenenden von Leuten aus der Stadt besucht wurden. Außerdem fand dort alljährlich ein Austernfest statt. Er kam am Postamt und einer kleinen Kirche vorüber, deren Eingangsstufen der Pfarrer von Schnee freischaufelte.
Joshs im viktorianischen Stil errichtetes Häuschen mit einem spitzen Doppelgiebel lag im Norden, zwei Querstraßen von der Hauptstraße entfernt, an der Green Street. Man hatte von der Veranda des schieferblau gestrichenen und weiß mit gelb abgesetzten Hauses, die sich über die ganze Vorderseite und einen Teil der Schmalseiten erstreckte, einen Blick auf den Hafen. Da die Auffahrt von einem guten halben Meter Schnee bedeckt war, stellte Nate den Wagen am Bürgersteig ab und kämpfte sich durch Schneewehen zur Haustür durch. Er trat ein und machte Licht. In einem Besenschrank nahe der Hintertür fand er eine Schneeschaufel aus Kunststoff.
Er verbrachte eine herrliche Stunde damit, die Veranda, die Auffahrt und den Bürgersteig von Schnee zu befreien, bis er sich schließlich zu seinem Wagen vorgearbeitet hatte.
Es überraschte ihn nicht, dass das aufgeräumte Haus, in dem alles an seinem Platz zu sein schien, voller Gegenstände aus der Zeit seiner Entstehung war. Josh hatte gesagt, dass jeden Mittwoch eine Frau zum Putzen und Staubwischen komme. Normalerweise wohnte Joshs Frau zwei Wochen im Frühling und eine Woche im Herbst darin. Josh hatte in den letzten achtzehn Monaten drei Nächte dort verbracht. Es gab vier Schlafzimmer und vier Bäder. Ein Häuschen eben.
Aber nirgendwo fand sich Kaffee - ein echter Notfall. Nate schloß das Haus ab und machte sich auf den Weg in den Ort. Die Bürgersteige waren geräumt und naß vom geschmolzenen Schnee. Wenn man dem Thermometer im Fenster des Friseurladens glauben durfte, waren es zwei Grad über Null. Alle Läden waren geschlossen. Im Vorübergehen sah Nate in ihre Schaufenster. Vor ihm ertönten die Kirchenglocken.
Dem Merkblatt zufolge, das ihm der ältliche Kirchendiener in die Hand drückte, hieß der Gemeindepfarrer Phil Lancaster. Dieser kleine, drahtige Mann mit einer dicken Hornbrille und rotgrau meliertem, gelocktem Haar konnte ebenso gut fünfunddreißig wie fünfzig Jahre alt sein. Die Gemeinde, die sich zum Elf-Uhr-Gottesdienst versammelt hatte, war nicht eben zahlreich, was vermutlich auf das Wetter zurückzuführen war. Nate zählte einundzwanzig Menschen, Pfarrer und Organist eingerechnet. Viele Köpfe waren schon ergraut.
Es war eine hübsche kleine Kirche mit einer gewölbten Decke und Buntglasfenstern. Bänke und Fußboden bestanden aus dunklem Holz. Als der Kirchendiener in der letzten Bank Platz nahm, erhob sich der Pfarrer in seinem schwarzen Talar und hieß die Besucher in der Dreifaltigkeits-Kirche willkommen, in der jeder zu Hause sei.
Er sprach laut und mit näselnder Stimme; ein Mikrophon brauchte er nicht. In seinem Gebet dankte er Gott für den Schnee und den Winter, für die Jahreszeiten, die uns daran erinnern sollten, dass Er stets die Fäden in der Hand hat.
Die Gemeinde stolperte durch die Lieder und Gebete. Während der Predigt fiel der Blick des Pfarrers auf Nate,
den einsamen Besucher in der vorletzten Reihe. Sie lächelten beide, und einen kurzen Moment lang fürchtete Nate, er wolle ihn der kleinen Gemeinde vorstellen.
Das Thema der Predigt war Begeisterungsfähigkeit. Es kam ihm angesichts des Durchschnittsalters der Gemeinde merkwürdig vor. Nate gab sich große Mühe zuzuhören, doch ließ seine Aufmerksamkeit bald nach. Seine Gedanken kehrten zur kleinen Kirche in Corumba zurück, deren Türen und Fenster offengestanden hatten, so dass die heiße Luft hindurchstrich, zum sterbenden Christus, der am Kreuze litt, zu dem jungen Mann mit der Gitarre.
Um den Pfarrer nicht zu kränken, hielt er den Blick auf einen dunklen Lichtkreis an der Wand hinter der Kanzel gerichtet. Angesichts der dicken Brillengläser des Predigers nahm er an, dass seine mangelnde Anteilnahme nicht auffallen werde.
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