»Nein. Wir können die Sache auf keinen Fall länger hinauszögern. Troys Tod liegt einen ganzen Monat zurück. Richter Wycliff will unbedingt wissen, wo sich Rachel Lane aufhält. Die Anwälte der Kinder haben sechs Anträge auf Anfechtung des Testaments eingereicht und machen erheblichen Druck, dass es vorangeht. Die ganze Sache wird von A bis Z in der Presse breitgetreten. Wenn wir auch nur den kleinsten Hinweis darauf liefern, dass Rachel die Absicht hat, das Erbe auszuschlagen, verlieren wir die Kontrolle. Die Phelan-Kinder und ihre Anwälte drehen durch, und der Richter hat auf einmal kein Interesse mehr daran, Troys letztem Testament zur Geltung zu verhelfen.«
»Willst du damit sagen, dass ich ihr Anwalt bin?«
»Wir haben keine andere Möglichkeit, Nate. Wenn du aus der Kanzlei außteigen willst, soll mir das recht sein, aber diesen letzten Fall musst du noch durchziehen. Setz dich einfach an den Tisch und wahre Rachels Interessen. Die Kanzlei arbeitet dir zu.«
»Aber da gibt es doch einen Interessenkonflikt. Schließlich bin ich Teilhaber in dieser Kanzlei.«
»Das ist halb so schlimm, denn unsere Interessen sind identisch. Für uns - die Nachlaßverwaltung und Rachel -lautet die Aufgabe, das Testament zu schützen. Wir sitzen im selben Boot. Außerdem können wir ohne weiteres behaupten, dass du der Kanzlei seit August nicht mehr angehörst.«
»Da ist viel Wahres dran.«
Beide bestätigten diese traurige Wahrheit. Josh nippte an seinem Tee, ohne Nate aus den Augen zu lassen. »Irgendwann gehen wir zu Wycliff und sagen ihm, dass du Rachel zwar gefunden hast, sie aber zur Zeit noch nicht selbst in Erscheinung treten möchte und nicht sicher ist, was sie tun will. Vorsichtshalber aber hat sie dich mit der Wahrnehmung ihrer Interessen beauftragt.«
»Damit würden wir ihn belügen.«
»Das ist eine harmlose Lüge, und der Richter wird später dafür dankbar sein. Er will unbedingt anfangen, kann das aber erst tun, wenn er von Rachel gehört hat. Sobald du als ihr Anwalt auftrittst, fängt der Krieg an. Das Lügen überlass mir.«
»Das heißt, ich arbeite als Ein-Mann-Kanzlei an meinem letzten Fall.«
»So ist es.«
»Ich verlasse die Stadt, Josh. Ich kann hier nicht bleiben.« Nachdem Nate das gesagt hatte, lachte er. »Wo sollte ich denn auch wohnen?«
»Wohin willst du?«
»Ich weiß noch nicht. So weit habe ich noch nicht gedacht.«
»Ich habe eine Idee.«
»Davon bin ich überzeugt.«
»Zieh doch in mein Sommerhäuschen in St. Michaels an der Chesapeake Bay. Es steht im Winter sowieso leer.
Es sind zwei Stunden bis dorthin, du kannst also herkommen, wenn du hier gebraucht wirst, und bei mir übernachten. Noch einmal, Nate, alles, was an Vorarbeiten nötig ist, erledigt die Kanzlei.«
Nate betrachtete eine Weile die Bücherregale. Erst vor vierundzwanzig Stunden hatte er auf einer Parkbank in Corumba ein Sandwich gegessen, den Vorüberkommenden zugesehen und darauf gewartet, dass Rachel auftauchte. Er hatte sich geschworen, nie wieder freiwillig einen Gerichtssaal zu betreten.
Aber widerwillig räumte er ein, dass der Plan etwas für sich hatte. Einen besseren Mandanten als Rachel konnte er sich auf keinen Fall wünschen. Der Fall würde nie vor Gericht kommen. Und bei den Beträgen, um die es ging, hatte er die Möglichkeit, zumindest einige Monate lang seinen Lebensunterhalt zu verdienen.
Josh beendete seine Suppe und sprach den nächsten Punkt auf der Tagesordnung an. »Ich schlage vor, dass du zehntausend Dollar im Monat bekommst.«
»Das ist großzügig, Josh.«
»Ich denke, dass wir das aus dem Nachlass des Alten rausquetschen können. Da du keine laufenden Kosten hast, kannst du damit wieder auf die Beine kommen.«
»Bis... «
»Genau, bis wir die Sache mit dem IRS klären.«
»Hast du schon was vom zuständigen Richter gehört?«
»Ich rufe ihn von Zeit zu Zeit an. Vorige Woche haben wir miteinander zu Mittag gegessen.«
»Ist das ein guter Kumpel von dir?«
»Wir kennen uns schon lange. Du musst auf keinen Fall ins Gefängnis, Nate. Man wird sich mit einer hohen Geldstrafe und einem fünfjährigen Entzug deiner Zulassung als Anwalt begnügen.«
»Meine Zulassung können sie haben.« »Noch nicht. Wir brauchen sie für einen weiteren Fall.« »Wie lange sind sie bereit zu warten?« »Ein Jahr. Es eilt ihnen nicht besonders damit.« »Danke, Josh.« Nate war wieder müde.
Die Strapazen im Urwald, der Nachtflug, das anstrengende Gespräch mit Josh. Er sehnte sich nach einem weichen, warmen Bett in einem dunklen Zimmer.
Um sechs Uhr am Sonntag morgen nahm Nate seine dritte warme Dusche in vierundzwanzig Stunden und überlegte, wie er Washington möglichst rasch verlassen konnte. Eine Nacht in der Stadt hatte ihm genügt. Das Häuschen an der Bucht lockte ihn. Sechsundzwanzig Jahre war er in dieser Stadt zu Hause gewesen, jetzt, da er sich entschlossen hatte, ihr den Rücken zu kehren, konnte es ihm nicht schnell genug gehen.
Da er keine Wohnung auszuräumen hatte, ging der Umzug einfach vonstatten. Er suchte Josh und fand ihn in seinem Arbeitszimmer, wo er gerade mit einem Mandanten in Thailand telefonierte. Allem Anschein nach ging es um Erdgasvorkommen. Während Nate mithörte, war er froh, die Anwaltspraxis aufzugeben. Obwohl Josh steinreich war und zwölf Jahre älter als er, kannte er, wie es aussah, kein größeres Vergnügen, als um halb sieben am Sonntag morgen am Schreibtisch zu sitzen. Hoffentlich passiert mir das nicht, sagte Nate zu sich selbst. Doch ihm war klar, dass es nicht dazu kommen würde. Hätte er allerdings seine Arbeit in der Kanzlei wiederaufgenommen, würde es mit Sicherheit im alten Trott weitergehen. Vier Entziehungskuren bedeuteten nichts anderes, als dass die fünfte schon auf ihn wartete. Er war nicht so stark wie Josh und wäre bestimmt zehn Jahre später tot. Sich all dem zu entziehen war aufregend. Auf das unangenehme Geschäft, Ärzte wegen Kunstfehlern zu verklagen, konnte er gut verzichten, und auch der hektische Betrieb einer Kanzlei, in der es zuging wie in einem Taubenschlag, würde ihm nicht fehlen. Er hatte seine Karriere und seine Triumphe hinter sich. Der Erfolg hatte ihm nichts als Elend gebracht; er konnte nicht damit umgehen. Der Erfolg hatte ihn in die Gosse geschickt.
Jetzt, da die Schreckensvorstellung, ins Gefängnis zu müssen, von ihm genommen war, konnte er sein neues Leben genießen.
Er verließ Washington mit einen Kofferraum voll Kleidungsstücke; alles andere ließ er in einer Kiste in Joshs Garage zurück. Es hatte aufgehört zu schneien, aber die Schneepflüge hatten noch zu tun. Nach wenigen hundert Metern fiel Nate ein, dass er über fünf Monate lang kein Lenkrad in der Hand gehabt hatte. Es herrschte kaum Verkehr, und er kroch über die Wisconsin Avenue nach Chevy Chase, bis er den Beltway erreichte, der vollständig geräumt war.
Als er allein in seinem eleganten Auto saß, kam er sich allmählich wieder wie ein Amerikaner vor. Er dachte an Jevy und seinen lauten, gefährlichen Pickup. Wie lange die beiden wohl auf dem Beltway überdauern würden?
Er musste auch an Welly denken. Der Junge stammte aus einer Familie, die so arm war, dass sie nicht einmal ein Auto besaß. Nate nahm sich vor, in den nächsten Tagen Briefe zu schreiben, unter anderem einen an seine Reisegefährten aus Corumba.
Sein Blick fiel auf das Telefon. Er nahm den Hörer ab: Es schien zu funktionieren. Natürlich hatte Josh dafür gesorgt, dass die Rechnungen bezahlt wurden. Er rief Sergio zu Hause an, und sie sprachen zwanzig Minuten lang miteinander. Er musste sich Vorwürfe anhören, weil er sich nicht früher gemeldet hatte. Sergio hatte sich Sorgen gemacht. Nate schob alles darauf, dass es im Pantanal keine Telefone gab. Er berichtete ihm, dass die Dinge jetzt in eine andere Richtung gingen, es zwar verschiedene Unbekannte gebe, sein Abenteuer aber noch nicht zu Ende sei. Er werde seinen Beruf aufgeben und brauche nicht ins Gefängnis.
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