Sie aßen Brathähnchen in einem Straßencafe. Fußgänger belebten die Straßen, und Musik erfüllte die Luft. Paare mit kleinen Kindern kauften Eiscreme und kehrten nach Hause zurück. Halbwüchsige zogen in Gruppen ohne erkennbares Ziel umher. Vor den Lokalen standen die Gäste auf dem Bürgersteig. Junge Männer und Frauen zogen von einem Lokal zum nächsten. Auf den Straßen war es warm und sicher; kein Mensch schien zu befürchten, dass man auf ihn schießen oder ihn ausrauben könnte.
An einem Tisch in der Nähe trank ein Mann kaltes Brahma-Bier aus einer braunen Flasche, und Nate sah ihm bei jedem Schluck zu.
Nach dem Nachtisch verabschiedeten sie sich voneinander und verabredeten, früh am nächsten Morgen gemeinsam weiterzusuchen. Jevy ging in die eine Richtung, und Nate in die andere. Er war ausgeruht und hatte es satt, im Bett herumzuliegen.
Zwei Nebenstraßen vom Fluss entfernt wurde es stiller. Die Läden waren geschlossen, in den Häusern brannte kein Licht, es herrschte kaum Verkehr. Vor sich sah Nate die Lichter einer kleinen Kapelle. Da wird sie sein, sagte er sich. Fast hätte er es laut gesagt.
Da die Tür weit offen stand, konnte er vom Bürgersteig aus hölzerne Bankreihen sehen, die leere Kanzel, das Wandbild mit Christus am Kreuz und die Rücken einiger Menschen, die mit gesenkten Köpfen versunken beteten. Leise Orgelmusik lockte ihn ins Innere. Er blieb in der Tür stehen und sah, dass insgesamt fünf Menschen in den Bänken verteilt saßen. Keiner von ihnen sah Rachel auch nur im entferntesten ähnlich. Die Orgelbank unter dem Wandgemälde war leer. Die Musik kam aus einem Lautsprecher.
Er hatte Zeit und konnte warten. Vielleicht würde sie ja kommen. Langsam ging er an der hintersten Bankreihe entlang und setzte sich. Er betrachtete die Kreuzigungsszene, die Nägel in Seinen Händen, den Lanzenstich in Seiner Seite, die Qual auf Seinen Zügen. Hatte man Ihn wirklich auf so abscheuliche Weise umgebracht? Irgendwann in seinem kläglichen und auf weltliche Dinge gerichteten Leben hatte auch Nate die Geschichten aus dem Leben Jesu gelesen oder erzählt bekommen: die jungfräuliche Geburt, daher Weihnachten; das Gehen auf dem Wasser; dann noch das eine oder andere Wunder; hatte der Wal Ihn verschlungen, oder war das ein anderer gewesen? Dann der Verrat durch Judas, das Verfahren vor Pilatus, die Kreuzigung, daher Ostern, und schließlich die Himmelfahrt.
Ja, die grundlegenden Tatsachen waren Nate bekannt. Vielleicht hatte seine Mutter sie ihm erzählt. Keine seiner Frauen war zur Kirche gegangen, obwohl Gattin Nummer zwei katholisch gewesen war und sie jedes zweite Jahr die Christmette besucht hatten.
Drei weitere Menschen kamen von der Straße herein. Ein junger Mann mit einer Gitarre trat durch einen Seiteneingang und ging zur Kanzel. Es war genau halb zehn. Er schlug einige Akkorde an und begann zu singen, wobei sein Gesicht vor Begeisterung glühte. Eine winzige Frau, die eine Bank weiter saß, klatschte in die Hände und sang mit.
Unter Umständen würde die Musik Rachel anlocken. Sie musste doch große Sehnsucht nach dem Gottesdienst in einer richtigen Kirche mit einem Holzfußboden und Buntglasfenstern haben, in der vollständig angezogene Menschen in einer Kultursprache aus der Bibel lasen. Gewiss suchte sie die Kirchen auf, wenn sie in Corumba war.
Als das Lied zu Ende war, las der junge Mann einen Bibeltext und begann darüber zu sprechen. Nate hatte im Verlauf seines kleinen Abenteuers noch niemanden so langsam portugiesisch sprechen hören. Die leisen, ver-schliffenen Laute und der getragene Rhythmus fesselten ihn. Obwohl er kein Wort verstand, versuchte er, sich die Sätze zu wiederholen. Dann schweiften seine Gedanken ab.
Sein Körper hatte sich von den Auswirkungen der Fieberanfälle und der Medikamente erholt. Er war gut genährt, ausgeruht und tatendurstig. Er war wieder er selbst, und das bedrückte ihn mit einem Mal. Die Gegenwart stand wieder vor ihm, Hand in Hand mit der Zukunft. Die Last, die er bei Rachel abgeladen hatte, drohte ihm wieder, hier in dieser Kirche. Rachel musste sich unbedingt zu ihm setzen, seine Hand halten und ihm beten helfen.
Er hasste seine Schwächen. Er zählte sie eine nach der anderen auf, und die Länge der Liste betrübte ihn. Die Dämonen warteten zu Hause auf ihn - die guten und die schlechten Freunde, die Orte, an denen er sich aufzuhalten pflegte, und die Gewohnheiten, denen er anhing, der Druck, dem er nicht länger standhalten konnte. Weder vermochte er für tausend Dollar am Tag ein Leben mit den Sergios dieser Welt zu führen, noch eines, bei dem er frei auf der Straße umherzog.
Jetzt betete der junge Mann, die Augen fest geschlossen, während er die Arme flehend zum Himmel erhob. Auch Nate schloss die Augen und sagte den Namen Gottes. Gott wartete auf ihn.
Mit beiden Händen umklammerte er die Lehne der Bank vor ihm. Murmelnd wiederholte er die Liste, sagte leise jede Schwäche, jede Sünde, jede Qual und jedes Übel vor sich hin, die ihn heimsuchten. Er beichtete alles. In einem einzigen langen Bekenntnis seines Versagens stellte er sich nackt und bloß vor Gott hin. Er verschwieg nichts. Er lud so viele Bürden ab, dass sie genügt hätten, drei Männer unter sich zu begraben. Als er schließlich endete, standen ihm Tränen in den Augen. »Es tut mir leid«, flüsterte er Gott zu. »Bitte hilf mir.«
Ebenso rasch, wie das Fieber seinen Körper verlassen hatte, fühlte er seine Seele von ihrer Last befreit. Mit einer sanften Handbewegung war sein Sündenregister getilgt. Er stieß einen tiefen Seufzer der Erleichterung aus, aber sein Puls jagte.
Wieder hörte er die Gitarre. Er öffnete die Augen und wischte sich die Wangen. Jetzt sah er nicht den jungen Mann auf der Kanzel, sondern das von Leid und Schmerz verzerrte Gesicht Christi, der am Kreuz starb. Für ihn. Eine Stimme rief ihn. Sie kam aus seinem Inneren und wollte ihn durch den Mittelgang der kleinen Kirche führen. Aber die Aufforderung verwirrte ihn. In ihm lagen viele Empfindungen im Widerstreit miteinander. Mit einem Mal waren seine Augen trocken.
Warum weine ich eigentlich in einer kleinen Kapelle, in der es heiß ist, und höre mir Musik an, die ich nicht verstehe, in einer Stadt, die ich nie wiedersehen werde? Die Fragen bestürmten ihn, ohne dass er eine Antwort darauf fand.
Es war schön und gut, dass Gott ihm seine verblüffende Zahl von Missetaten vergab, und es kam Nate tatsächlich so vor, als wäre seine Last leichter geworden - aber dass von ihm erwartet wurde, die Nachfolge Christi anzutreten, dieser Schritt war sehr viel schwerer zu vollziehen.
Während er weiter der Musik zuhörte, fühlte er sich verwirrt. Es war unmöglich, dass Gott ihn rief. Er war Nate
O'Riley - Säufer, Drogensüchtiger, Weiberheld, ein Vater, der seine Kinder vernachlässigte, ein schlechter Ehemann, ein habgieriger Anwalt, ein Steuerbetrüger. Die traurige Liste hörte überhaupt nicht auf.
Ihm war schwindelig. Die Musik hörte auf, und als sich der junge Mann daran machte, ein weiteres Lied anzustimmen, verließ Nate die Kirche in aller Eile. Während er eine Ecke umrundete, warf er einen Blick hinter sich. Er hoffte, Rachel zu sehen, wollte sich aber auch vergewissern, dass ihm Gott nicht jemanden nachschickte.
Er musste mit jemandem reden. Er war sicher, dass sie sich in Corumba aufhielt, und er nahm sich vor, sie unter allen Umständen zu finden.
Ein despachante ist unabdingbarer Bestandteil des Lebens in Brasilien. Keine Firma, Bank, Anwaltskanzlei oder Arztpraxis, keine Privatperson, die über Geld verfügt, kann ohne die Dienste eines despachante auskommen. Er ist das Schmiermittel im Getriebe eines Landes, in dem eine überholte Bürokratie wuchert, er kennt nicht nur die Beamten der Stadtverwaltung, sondern auch jeden bei Gericht, alle Zollbeamten und jeden anderen Amtsträger. Er durchschaut das System und weiß, wie man sich seiner bedient. In Brasilien kann man ohne endlos langes Schlangestehen kein amtliches Dokument bekommen, und der despachante ist derjenige, der sich für andere in die Schlange stellt. Gegen eine kleine Gebühr wartet er acht Stunden lang, um die Autozulassung zu verlängern, und klebt dann seinem Auftraggeber die Plakette an die Windschutzscheibe, während dieser seiner Arbeit im Büro nachgeht. Er wählt für andere, erledigt Bankgeschäfte, fertigt Paket- und Briefsendungen ab - die Liste ist endlos.
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