»Wir können uns unterhalten. Gute Nacht.«
Auf dem kurzen Weg ins Dorf folgte er Lako so dicht, dass er ihm fast auf die Fersen getreten hätte.
»Hier«, flüsterte Jevy aus der Dunkelheit. Irgendwie hatte er erreicht, dass man ihnen gestattete, zwei Hängematten auf der kleinen Veranda des Männerhauses zu nutzen. Nate fragte, wie Jevy das angestellt hatte. Er versprach, es ihm am nächsten Morgen zu erklären.
Lako verschwand in der Nacht.
F. Parr Wycliff war damit beschäftigt, im Gerichtssaal sein Tagespensum an öden mündlichen Verhandlungen abzuarbeiten. Er war bereits im Rückstand. Im Richterzimmer wartete Josh mit dem Videoband. Er schritt in dem vollgestellten Raum auf und ab, griff nach seinem Mobiltelefon, war mit den Gedanken in einer anderen Hemisphäre. Er hatte immer noch nichts von Nate gehört.
Valdirs beruhigende Worte - das Pantanal ist groß, der Führer ist zuverlässig, es ist ein gutes Boot, die Indianer ziehen von einem Ort zum anderen und wollen von niemandem gefunden werden, alles ist in bester Ordnung -kamen ihm einstudiert vor. Er werde sich melden, sobald er etwas von Nate hörte. Josh hatte schon erwogen, eine Rettungsaktion zu organisieren. Aber vermutlich war es nicht möglich, ins Pantanal vorzudringen, um einen verlorengegangenen Anwalt zu finden. Wie es aussah, war es schon schwierig genug, bis Corumba zu gelangen. Dennoch konnte er hinfliegen, sich zu Valdir ins Büro setzen und warten, bis eine Meldung kam.
Josh arbeitete an sechs Tagen die Woche zwölf Stunden täglich, und der Fall Phelan stand kurz vor der Explosion. Ihm blieb kaum Zeit zum Mittagessen, von einer Reise nach Brasilien ganz zu schweigen.
Er versuchte, Valdir über sein Mobiltelefon zu erreichen, aber die Leitung war besetzt.
Wycliff kam herein, entschuldigte sich und zog sich gleichzeitig die Robe aus. Ihm lag daran, einen einflussreichen Anwalt wie Stafford mit der Bedeutung der bei ihm anliegenden Fälle zu beeindrucken.
Sie waren allein im Richterzimmer. Schweigend betrachteten sie den Anfang des Videobandes. Auf ihm war zu sehen, wie der alte Troy im Rollstuhl saß und Josh ihm das Mikrophon zurechtrückte. Dann traten die drei Psychiater mit ihren langen Fragelisten auf. Die Befragung dauerte einundzwanzig Minuten und endete mit der einhellig geäußerten Meinung, dass Mr. Phelan durchaus wisse, was er tue. Wycliff konnte ein breites Lächeln nicht unterdrücken.
Das Konferenzzimmer leerte sich. Die unmittelbar auf Troy gerichtete Kamera blieb eingeschaltet. Er holte das eigenhändige Testament hervor und unterschrieb es vier Minuten nach dem Ende der Befragung durch die Psychiater.
»Und jetzt springt er«, sagte Josh.
Die Kamera bewegte sich nicht. Sie erfasste Troy, als er sich unvermittelt vom Tisch abstieß und aus dem Rollstuhl aufstand. Während er vom Bildschirm verschwand, starrten Josh, Snead und Tip Durban eine Sekunde lang ungläubig, dann rannten sie hinter dem alten Mann her. Die Bilder waren durchaus dramatisch.
Fünfeinhalb Minuten lang zeichnete die Kamera lediglich leere Stühle auf. Man hörte Stimmen. Dann sah man, wie sich der arme Snead auf Troys Platz setzte. Er war sichtlich erschüttert und den Tränen nahe, brachte es aber fertig, in die Kamera zu sagen, was er soeben miterlebt hatte. Josh und Tip Durban taten das gleiche. Neununddreißig Minuten Videoband.
»Wie wollen sie nur dagegen angehen?« fragte Wycliff, als es vorüber war. Auf diese Frage blieb ihm Josh die Antwort schuldig. Zwei der Nachkommen Troys - Rex und Libbigail - hatten bereits den Antrag gestellt, das Testament anzufechten. Ihren Anwälten Hark Gettys und Wally Bright war es gelungen, ein beträchtliches Maß an Aufmerksamkeit auf sich zu lenken und zu erreichen, dass Presseleute sie interviewten und fotografierten.
Die anderen Nachkommen würden bald ihrem Beispiel folgen. Josh hatte mit den meisten ihrer Anwälte gesprochen; alle waren praktisch schon auf dem Weg zum Gericht.
»Jeder zweifelhafte Psychofritze im Land möchte ein Stück von diesem Kuchen haben«, sagte Josh. »Wir werden viele abweichende Meinungen zu hören bekommen.«
»Macht Ihnen der Selbstmord Sorgen?«
»Natürlich. Aber Troy hatte alles auf das sorgfältigste geplant, sogar seinen Selbstmord. Er wusste haargenau, wann und auf welche Weise er sterben wollte.«
»Was ist mit dem anderen Testament, dem dicken Dokument, das er als erstes unterschrieben hat?«
»Er hat es nicht unterschrieben.«
»Aber ich habe es doch selbst gesehen. Man sieht es auf dem Video.«
»Trotzdem. Er hat den Namen Micky Maus darunter geschrieben.«
Wycliff hatte sich Notizen gemacht, doch jetzt verharrte seine Hand mitten im Satz. »Micky Maus?« wiederholte er.
»Die Sache verhält sich wie folgt: Zwischen 1982 und 1996 habe ich für Mr. Phelan elf Testamente vorbereitet, teils umfangreiche, teils knappe. Darin hat er auf mehr verschiedene Arten über sein Vermögen verfügt, als Sie sich vorstellen können. Das Gesetz verlangt, dass ein Testament vernichtet wird, wenn es durch ein neues ersetzt werden soll. Also habe ich ihn mit der jeweiligen neuesten letztwilligen Verfügung in seinem Büro aufgesucht,
wir haben sie zwei Stunden lang Punkt für Punkt durchgearbeitet, und er hat unterschrieben. Ich habe sie in meiner Kanzlei aufbewahrt und immer das jeweils letzte Testament mitgebracht. Sobald er das neue unterschrieben hatte, haben wir - das heißt, Mr. Phelan und ich - das alte in den Aktenvernichter neben seinem Schreibtisch gesteckt. Er hat diese kleine Zeremonie jedesmal aufs höchste genossen. Dann war er einige Monate lang zufrieden, bis er sich über eins seiner Kinder ärgerte, und er hat angefangen, davon zu reden, dass er sein Testament abändern wollte.
Sofern die Nachkommen beweisen können, dass er bei der Abfassung des handschriftlichen Testaments nicht bei klarem Verstand war, gibt es gar keins. Alle anderen sind vernichtet worden.«
»In dem Fall müsste man ihn wie einen Erblasser behandeln, der kein Testament errichtet hat«, fügte Wycliff hinzu.
»Ja, und wie Sie sehr wohl wissen, würde sein Nachlass in einem solchen Fall gemäß den Gesetzen des Staates Virginia vollständig unter seinen sämtlichen Nachkommen aufgeteilt.«
»Sieben Kinder. Elf Milliarden Dollar.«
»Sieben, von denen wir wissen. Der Betrag kommt ziemlich genau hin. Würden Sie in einem solchen Fall als Erbe, der sich übergangen fühlt, nicht auch versuchen, das Testament anzufechten?«
Wycliff konnte sich nichts Schöneres vorstellen als eine langwierige Auseinandersetzung um das Erbe, bei der die Fetzen flogen. Und ihm war klar, dass die Anwälte, Josh Stafford nicht ausgenommen, bei einer solchen Auseinandersetzung noch reicher würden als ohnehin.
Aber zu einem Streit braucht man zwei Parteien, und vorerst war nur eine aufgetreten. Irgend jemand musste die Anfechtung von Mr. Phelans letztem Testament abwehren.
»Haben Sie schon etwas über Rachel Lane in Erfahrung gebracht?« fragte er.
»Nein. Aber wir sind auf der Suche nach ihr.«
»Wo befindet sie sich?«
»Vermutlich irgendwo in Südamerika, wo sie als Missionarin tätig ist. Nur gefunden haben wir sie noch nicht. Aber wir haben Leute da unten.« Josh merkte, dass er mit dem Wort >Leute< ziemlich locker umging. Gedankenversunken sah Wycliff zur Decke empor. »Warum wollte er seine elf Milliarden einer unehelichen Tochter hinterlassen, die als Missionarin arbeitet?«
»Das kann ich Ihnen nicht beantworten. Er hat mich im Laufe der Jahre schon mit so vielen Dingen überrascht, dass ich abgehärtet bin.«
»Aber es klingt doch ein bißchen verrückt, oder nicht?«
»Es ist merkwürdig.«
»Wussten Sie von ihr?«
»Nein.«
»Könnte es noch andere Erben geben?«
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