Der Junge stand unter einem Baum in der Nähe Wache. Man sah ihn in der Dunkelheit kaum.
»Ich würde Sie gern hereinbitten«, sagte sie, »aber das gehört sich nicht.«
»Kein Problem.«
»Nur Verheiratete dürfen sich um diese Zeit im Inneren einer Hütte aufhalten. Das ist hier so Brauch.«
»Ein sehr vernünftiger Brauch.«
»Das stimmt. Haben Sie Hunger?«
»Sie?«
»Nein. Aber ich esse sowieso nicht viel.«
»Ich bin ganz zufrieden. Wir müssen miteinander reden.«
»Das mit heute tut mir leid. Bestimmt haben Sie dafür Verständnis.«
»Natürlich.«
»Ich kann Ihnen etwas Maniok und ein wenig Saft zu trinken anbieten.«
»Nein, ehrlich, ich brauch nichts.«
»Wie haben Sie den Tag zugebracht?«
»Na ja, wir sind dem Häuptling vorgestellt worden, haben an seinem Tisch gefrühstückt, sind zum ersten Dorf zurückgekehrt, haben das Boot geholt, daran gearbeitet, unser Zelt hinter der Hütte des Häuptlings aufgeschlagen und dann auf Sie gewartet.«
»Hat der Häuptling Zutrauen zu Ihnen gefasst?«
»Ganz offensichtlich. Er möchte, dass wir bleiben.«
»Was halten Sie von meinen Leuten?«
»Sie laufen alle nackt rum.«
»Das war schon immer so.«
»Wie lange hat es gedauert, bis Sie sich daran gewöhnt hatten?«
»Das weiß ich nicht mehr. Ein paar Jahre. Allmählich wird es einem so selbstverständlich wie alles andere. Ich hatte drei Jahre lang Heimweh, und manchmal überfällt mich auch heute noch der plötzliche Wunsch, Auto zu fahren, eine Pizza zu essen und einen guten Film zu sehen. Aber man passt sich an.«
»Ich kann mir das gar nicht richtig vorstellen.«
»Man muss dazu berufen sein. Ich habe mich mit vierzehn Jahren entschieden, mein Leben als bewusste Christin zu verbringen. Damals ist mir aufgegangen, dass mich Gott zur Missionarin bestimmt hatte. Ich wusste nicht genau, wo, aber ich habe auf den Herrn vertraut.«
»Da hat er Ihnen aber einen verdammt abgeschiedenen Ort ausgesucht.«
»Ich spreche gern englisch mit Ihnen, aber bitte fluchen Sie nicht.«
»Tut mir leid. Können wir über Troy reden?« Die Schatten wurden rasch dunkler. Sie saßen drei Meter voneinander entfernt und konnten einander noch sehen, doch bald würde die Schwärze der Nacht sie voneinander trennen.
»Wie Sie wollen«, sagte sie müde und resigniert.
»Er war dreimal verheiratet und hatte, soweit wir wissen, insgesamt sieben Kinder. Sie waren für uns natürlich eine Überraschung. Die anderen sechs hat er nicht leiden können und ihnen daher so gut wie nichts hinterlassen, gerade genug, dass sie ihre Schulden bezahlen können. Sie hingegen scheint er in sein Herz geschlossen zu haben, denn alles andere geht an Rachel Lane, die am 2. November 1954 im katholischen Krankenhaus von New Orleans als uneheliches Kind der inzwischen verstorbenen Evelyn Cunningham zur Welt gekommen ist. Jene Rachel dürften Sie sein.«
In der Stille, die sie umgab, schienen diese Worte besonderes Gewicht zu haben. Rachel nahm das Gesagte auf und dachte wie immer lange nach, bevor sie etwas sagte. »Nein, er hatte mich nicht ins Herz geschlossen. Wir haben einander zwanzig Jahre lang nicht gesehen.«
»Das ist unerheblich. Er hat Ihnen sein Vermögen hinterlassen. Niemand hatte Gelegenheit, ihn zu fragen, warum, denn nachdem er dies Testament unterschrieben hatte, ist er von einer Dachterrasse gesprungen. Ich habe eine Kopie mitgebracht.«
»Ich möchte sie nicht sehen.«
»Außerdem habe ich einige weitere Papiere, die Sie bitte unterschreiben wollen, vielleicht gleich morgen früh, wenn wir wieder etwas sehen können. Dann kann ich zurückkehren.«
»Was für Papiere sind das?«
»Alle möglichen gesetzlich vorgeschriebenen Dokumente, alles zu Ihrem Besten.«
»Ihnen liegt nichts an meinem Besten.« Diesmal kam ihre Antwort sehr viel schneller und schärfer, und Nate zuckte unter dem Vorwurf zusammen.
»Das stimmt nicht«, gab er zurück. Es klang kläglich.
»Doch, es stimmt. Sie wissen weder, was ich möchte oder brauche, noch, was ich mag oder was nicht. Sie kennen mich nicht, Nate, woher wollen Sie also wissen, was zu meinem Besten ist und was nicht?«
»Na schön, Sie haben recht. Ich kenne Sie nicht, und Sie kennen mich nicht. Ich bin hier, weil der Nachlass Ihres Vaters geregelt werden muss. Mir fällt es immer noch sehr schwer zu glauben, dass ich tatsächlich in der Dunkelheit vor einer Hütte in einem primitiven Indianerdorf sitze, mitten in einem Sumpfgebiet, das so groß ist wie der Staat Colorado, in einem Land der dritten Welt, das ich nie zuvor gesehen habe, und mit einer ganz reizenden Missionarin rede, die zufällig die reichste Frau der Welt ist. Ja, Sie haben recht, ich weiß nicht, was zu Ihrem Besten ist. Aber es ist sehr wichtig, dass Sie diese Dokumente sehen und unterschreiben.«
»Ich unterschreibe nichts.«
»Na hören Sie mal!«
»Ich bin nicht an Ihren Dokumenten interessiert.«
»Sie haben sie doch noch gar nicht gesehen.«
»Sagen Sie mir, worum es darin geht.«
»Es sind reine Formalitäten. Meine Kanzlei muss dafür sorgen, dass das Nachlaßgericht den Erbschein außtellen kann. Jeder der im Testament Ihres Vaters namentlich genannten Erben muss dem Gericht persönlich oder schriftlich bestätigen, dass er Kenntnis von dem damit verbundenen Verfahren hat und auf die Möglichkeit hingewiesen wurde, sich daran zu beteiligen. So will es das Gesetz.«
»Und wenn ich mich weigere?«
»Darüber habe ich, ehrlich gesagt, noch nicht nachgedacht. Es ist eine solche Selbstverständlichkeit, dass alle es einfach machen.«
»Das würde heißen, ich unterwerfe mich dem Gericht in...«
»Virginia. Das dortige Nachlassgericht ist für Sie zuständig, auch wenn Sie sich woanders aufhalten.«
»Ich bin nicht sicher, ob mir das gefällt.«
»Na schön, dann springen Sie ins Boot, und wir fliegen nach Washington.«
»Ich gehe hier nicht weg.« Darauf folgte ein langes Schweigen, das durch die völlige Finsternis um sie herum noch vertieft wurde. Der junge Mann unter dem Baum regte sich nicht. Von den Indianern in ihren Hütten hörte man mit Ausnahme eines schreienden Säuglings keinen Laut.
»Ich hole uns etwas Saft«, sagte sie mit leiser Stimme und ging dann hinein. Nate stand auf, streckte sich und schlug nach Moskitos.
Im Haus sah man flackernden Lichtschein. Rachel hielt eine Art tönerne Schale mit einer Flamme in der Mitte. »Das sind Blätter von dem Baum da drüben «, erklärte sie, während sie die Schale auf den Boden neben die Tür stellte. »Wir verbrennen sie, um die Moskitos zu vertreiben. Setzen Sie sich ganz nahe daran.«
Nate befolgte die Aufforderung. Sie kehrte mit zwei Bechern zurück. Sie enthielten eine Flüssigkeit, die er nicht
sehen konnte. »Es ist macajuno, so ähnlich wie Orangensaft.« Sie saßen dicht nebeneinander auf den Boden, den Rücken an die Wand der Hütte gelehnt. Die Schale mit der Flamme stand nicht weit von ihren Füssen.
»Sprechen Sie leise«, sagte sie. »Die Stimmen tragen in der Dunkelheit weit, und die Leute versuchen zu schlafen. Außerdem sind sie schrecklich neugierig.«
»Sie können nichts verstehen.«
»Schon, aber sie hören trotzdem zu.«
Er hatte sich mehrere Tage nicht mit Seife gewaschen und machte sich mit einem Mal Sorgen um seine Körperhygiene. Er nahm einen kleinen Schluck, dann noch einen.
»Haben Sie Familie?« fragte sie.
»Ich hab es zweimal probiert. Zwei Ehen, zwei Scheidungen, vier Kinder. Jetzt lebe ich allein.«
»Es ist sehr leicht, sich scheiden zu lassen, nicht wahr?«
Nate nahm ein winziges Schlückchen der warmen Flüssigkeit. Bisher war er von den entsetzlichen Durchfällen verschont geblieben, die so manchen Ausländer heimsuchten. Sicherlich war diese dunkle Flüssigkeit harmlos. Zwei Amerikaner mitten in der Wildnis. Es gab so vieles, worüber sie reden konnten - warum musste sie da ausgerechnet das Thema Scheidung ansprechen.
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