»Er war zum Essen dort, nicht zum Schlafen. Die Vorschriften sind kompliziert.«
Das erschien Nate amüsant - primitive Eingeborene, die splitternackt herumliefen, aber nach einem komplizierten System von Vorschriften lebten.
»Ich würde morgen gern gegen Mittag zurückfahren«, sagte Nate.
»Auch das muss der Anführer entscheiden.«
»Wollen Sie damit sagen, dass wir nicht aufbrechen können, wann wir wollen?« »Sie fahren, wenn er sagt, dass Sie fahren können. Machen Sie sich keine Sorgen.«
»Verstehen Sie sich gut mit dem Häuptling?«
»Wir kommen miteinander aus.«
Sie schickte die Männer ins Dorf zurück. Die Sonne war hinter den Bergen verschwunden. Die Schatten des Waldes umschlossen sie.
Einige Minuten lang sah Rachel zu, wie sich Jevy und Nate mit dem Zelt abmühten. Es sah in seiner Hülle ziemlich klein aus und wurde auch nicht viel größer, als sie die Stäbe zusammensteckten. Nate war nicht sicher, ob Jevy hineinpasste, von ihnen beiden zusammen ganz zu schweigen. Vollständig aufgestellt war es hüfthoch, sehr steil und wirkte für zwei erwachsene Männer ausgesprochen winzig.
»Ich gehe jetzt«, erklärte sie. »Ihnen wird hier nichts geschehen.«
»Versprochen?« fragte Nate. Es war ihm ernst damit.
»Ich kann zwei Männer herüberschicken, die Wache halten, wenn Sie das wollen.«
»Es geht schon«, sagte Jevy.
»Um wie viel Uhr steht man denn hier in der Gegend so auf?« fragte Nate.
»Eine Stunde vor Sonnenaufgang.«
» Bestimmt sind wir dann auch wach «, sagte er mit einem Blick auf das Zelt. »Können wir uns am frühen Morgen treffen? Wir müssen viel miteinander besprechen.«
»Ja. Ich werde Ihnen bei Tagesanbruch etwas zu essen schicken. Dann können wir miteinander reden.«
»Das wäre schön.«
»Vergessen Sie nicht zu beten, Mr. O'Riley.«
»Ich denke dran.«
Sie trat in die Dunkelheit und ging davon. Eine Weile konnte Nate sie noch auf dem Pfad erkennen, dann war sie verschwunden. Das Dorf lag unsichtbar in der Schwärze der Nacht.
Sie saßen stundenlang auf der Bank, warteten darauf, dass die Luft abkühlte und schraken vor dem Augenblick zurück, in dem sie genötigt waren, in das Zelt zu kriechen und verschwitzt und übelriechend Rücken an Rücken darin zu schlafen. Eine andere Möglichkeit hatten sie nicht. So winzig das Zelt war, es würde sie vor Moskitos und anderen Insekten schützen und auch sonstiges Getier fernhalten, das über den Boden kroch.
Sie sprachen über das Dorf. Jevy erzählte Indianergeschichten, bei denen immer jemand umkam. Schließlich fragte er: »Haben Sie ihr von dem Geld erzählt?«
»Nein, das mache ich morgen.«
»Was glauben Sie, wie sie sich dazu stellt? Sie kennen sie ja jetzt ja schon ein bißchen.«
»Keine Ahnung. Sie ist hier glücklich. Es kommt mir grausam vor, sie aus der Bahn zu werfen.«
»Dann geben Sie doch mir das Geld! Mich wirft es nicht aus der Bahn.«
Wie es ihm nach der Hackordnung zukam, kroch Nate zuerst ins Zelt. Da er die Nacht zuvor damit zugebracht hatte, vom Boden des Bootes aus den Sternenhimmel zu betrachten, war er entsetzlich müde.
Als er Nate schnarchen hörte, öffnete Jevy vorsichtig den Reißverschluss des Eingangs und schob ihn behutsam ein wenig hin und her, bis er Platz hatte. Nate merkte nichts davon.
Nach neun Stunden Schlaf erhoben sich die Ipicas vor Morgengrauen, um ihren Tag zu beginnen. Die Frauen machten vor den Hütten kleine Feuer zum Kochen, gingen dann mit den Kindern zum Fluss, um Wasser zu holen und zu baden. Gewöhnlich warteten sie das Tageslicht ab, bevor sie die Pfade betraten. Es war besser, man sah, was vor einem lag.
Die an den Gewässern im Süden Brasiliens sehr häufige Schlange, deren Biss oft tödlich ist und die auf portugiesisch urutu heißt, wurde von den Indianern bima genannt. Ayesh, ein siebenjähriges Mädchen, bei dessen Geburt die Missionarin Hilfe geleistet hatte, ging vor ihrer Mutter, statt, wie es üblich war, hinter ihr. Mit einem Mal spürte sie, wie sich unter ihrem nackten Fuß die bima wand.
Das Tier biss Ayesh unterhalb des Fußknöchels, und das Mädchen schrie laut auf. Bis der Vater bei ihr war, befand sie sich im Schock, und ihr rechter Fuß war auf doppelte Dicke angeschwollen. Ein fünfzehnjähriger Junge, der schnellste Läufer des Stammes, wurde ausgesandt, um Rachel zu holen.
An den beiden Wasserläufen, die sehr nahe der Stelle zusammenflössen, an der Jevy und Nate angelegt hatten, lagen insgesamt vier kleine Ipica-Siedlungen, und in jeder von ihnen lebte eine Sippe unabhängig von den anderen. Doch sie alle gehörten demselben Volk an, hatten dieselbe Sprache, dieselbe Kultur und dieselben Bräuche. Sie verkehrten miteinander und heirateten untereinander. Von der Flussgabelung bis zur letzten Hütte der Ipicas waren es höchstens acht Kilometer.
Ayesh gehörte zur dritten Siedlung hinter der Gabelung, und Rachel lebte in der zweiten, der größten. Der Läufer fand sie in ihrer kleinen Hütte, in der sie seit elf Jahren lebte. Sie las gerade in der Bibel. Rasch packte sie ihre kleine Arzttasche.
In jenem Teil des Pantanal gab es vier Arten von Giftschlangen, und häufig hatte Rachel für alle das Gegengift zur Hand. Diesmal aber nicht. Zwar wurde das Gegengift für den Biss der bima in Brasilien selbst hergestellt, doch hatte sie es bei ihrer letzten Reise nach Corumba nicht bekommen können. Die dortigen Apotheken führten weniger als die Hälfte der Medikamente, die sie brauchte.
Sie schnürte ihre Lederstiefel zu und verließ die Hütte mit der Tasche in der Hand. Lako und zwei andere junge Männer aus ihrem Dorf begleiteten sie, während sie im Laufschritt durch die hohen Pflanzen in den Wald eilte. Rachels statistischen Unterlagen zufolge lebten in den vier Ansiedlungen insgesamt 239 Ipicas: 86 Frauen, 81 Männer und 72 Kinder. Als sie elf Jahre zuvor ihre Arbeit aufgenommen hatte, waren es noch 280 gewesen. Die Malaria forderte in Abständen von wenigen Jahren ihre Opfer unter den Schwächeren, und im Jahre 1991 hatte die Cholera in einem Dorf zwanzig Menschen dahingerafft. Hätte Rachel nicht auf einer Quarantäne bestanden, wären die meisten der Ipicas dieser Epidemie erlegen.
Mit der Sorgfalt einer Anthropologin führte sie akribisch Buch über Geburten, Todesfälle, Hochzeiten, Stammbäume, Krankheiten und deren Behandlung. Meist wusste sie, wer eine außereheliche Beziehung hatte und mit wem. Sie kannte jeden Dorfbewohner mit Namen. Sie hatte Ayeshs Eltern in dem Fluss getauft, in dem die Dorfbewohner badeten.
Die kleine, zierliche Ayesh musste wahrscheinlich sterben, weil kein Medikament zur Verfügung stand. In den Vereinigten Staaten und den größeren Städten Brasiliens war das Gegengift ohne weiteres erhältlich und nicht einmal besonders teuer. Sogar mit dem kleinen Etat, den ihr die Missionsgesellschaft zur Verfügung stellte, konnte sie es sich leisten. Drei Spritzen in sechs Stunden, und der Tod ließ sich abwenden. Ohne das Mittel würde das Kind unter einer furchtbaren Übelkeit leiden, anschließend würde ein Fieber einsetzen, auf welches das Koma und schließlich der Tod folgte.
Zum letzten Mal hatte es unter den Ipicas vor drei Jahren einen Todesfall durch Schlangenbiss gegeben. Zum ersten Mal in zwei Jahren besaß Rachel kein Gegengift.
Ayeshs Eltern waren Christen, neue Heilige, die sich mit einer neuen Religion abmühten. Etwa ein Drittel der Ipicas waren bekehrt. Dank der Arbeit Rachels und ihrer Vorgänger konnte die Hälfte von ihnen lesen und schreiben. Sie betete, während sie im Laufschritt den jungen Männern folgte. Sie war schlank und zäh. Sie legte jeden Tag viele Kilometer zurück und aß wenig. Die Indianer bewunderten ihre Ausdauer.
Jevy wusch sich schon im Fluss, als Nate die Mückenklappe des Zelts öffnete und sich herausschälte. Da er die letzten Nächte im Boot und auf dem Erdboden verbracht hatte, meldeten sich die Verletzungen vom Flugzeugabsturz wieder. Er streckte den schmerzenden Rücken und die Beine und spürte dabei jedes einzelne seiner achtundvierzig Jahre. Er sah Jevy bis zur Hüfte im Wasser stehen, das weit klarer war als im übrigen Pantanal.
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