Mein letzter Aufschrei verebbte.
Christus persönlich war erschienen, im rauschenden Gewand.
»Oh, Herodes Antipas«, sagte er zu Fritz. »Du riefst mich zur Verhandlung?«
Der Schauspieler, so schmal wie ein El-Greco-Christus, seine bleiche Erscheinung, von dem gleichen schwefelgelben Licht umgeben, dem gleichen Gewölk, ließ sich langsam nieder, ohne überhaupt zu wissen, ob ein Stuhl da war. Er vertraute auf Gott und setzte sich. Als sein stoffloser Körper mit dem Stuhl in Berührung kam, lächelte der Schauspieler vor Stolz, sein Ziel so akkurat getroffen zu haben.
Sofort stellte eine Kellnerin einen kleinen Teller mit Lachs ohne Soße und eine Karaffe mit Rotwein vor ihn hin.
J. C. kaute mit geschlossenen Augen an einem Bissen Fisch.
»Mein alter Regisseur, mein neuer Autor«, sagte er schließlich. »Ihr habt mich gerufen, um über die Bibel zu reden? Fragt nur. Ich weiß alles .«
»Gott sei Dank, wenigstens einer«, sagte Fritz. »Der Großteil unseres Films wurde in Übersee gedreht, von einem hyperaufgeblasenen Regisseur, der ihn nicht mal mit einer Erektionshilfe hochkriegen würde. Maggie Botwin ist im Vorführraum 4. Seien Sie in einer Stunde dort.« Er bezeichnete mich mit seinem Monokel. »Da können Sie sich den ganzen Schiffbruch ansehen. Christus ging zwar über das Wasser, aber wie sieht’s mit knöcheltiefer Scheiße aus? J. C., gieße Öl in das reine Ohr dieses Jungen.« Er legte mir die Hand auf die Schulter. »Und du, mein Kind, findest eine Lösung für unser Problem mit dem fehlenden Judas; schreib ein Ende, das die Meute davon abhält, zu protestieren und ihr Geld zurückzuverlangen.«
Eine Tür knallte.
Dann war ich allein, nur J. C. durchleuchtete mich mit seinem Blau-wie-der-Himmel-über-Jerusalem-Blick.
Er kaute in aller Ruhe weiter an seinem Fisch.
»Du wunderst dich«, sagte er, »daß man mich hergebeten hat. Ich bin der Vorzeigechrist. Und ich bin ein alter Hase. Ich kenne mich mit Moses ebenso gut aus wie mit Mohammed und den Propheten. Ich kenne sie wie meine Hosentasche.«
»Dann sind Sie Christus, seit Sie denken können?«
J. C. sah, daß es mir ernst war. Er kaute. » Bin ich denn Christus? Es ist, als wäre ich ein für allemal in ein bequemes Gewand geschlüpft; nie mehr umziehen, äußerst angenehm. Wenn ich mir meine Wundmale ansehe, dann denke ich: ja, ich bin es. Und wenn ich mich morgens nicht rasiere, dann bestätigt mich mein Bart in dieser Meinung. Ich kann mir kein anderes Leben mehr vorstellen. Oh, vor vielen Jahren, ja, da war ich neugierig.« Er kaute den nächsten Bissen. »Ich habe alles ausprobiert, ging sogar zu Reverend Violet Greener auf dem Crenshaw Boulevard. Der Agabeg-Tempel?«
»Da bin ich auch gewesen!«
»Großartige Schauspieler, was? Seancen, Tamburine. Hat mich aber nie überzeugt. Dann zu Norvell. Gibt es den noch?«
»Klar! Der mit seinen großen, funkelnden Kuhaugen und seinen hübschen Freunden, die mit Tamburinen Spenden einsammeln?«
»Du errätst meine Gedanken! Astrologie? Numerologie? Holy Rollers? Ein Heidenspaß!«
»Bei den Holy Rollers war ich auch.«
»Wie hat dir ihr Schlammcatchen gefallen, und wie sie in vielen Zungen gesprochen haben?«
»Prima! Und was ist mit der Negro Baptist Church, Central Avenue? Der Hall-Johnson-Chor hopst und singt jeden Sonntag. Das reinste Erdbeben!«
»Meine Güte, Junge, du warst mir ja ständig auf den Fersen! Wie kommt es, daß du dich dort überall herumgetrieben hast?«
»Ich suchte nach Antworten!«
»Hast du den Talmud studiert, den Koran gelesen?«
»Die kamen zu spät für mich.«
»Laß dir erzählen, was wirklich zu spät kam …«
Ich schnaufte. »Das Buch Mormon!?«
»Heiliger Strohsack, stimmt genau!«
»Ich war in einer Jugendtheatergruppe der Mormonen, als ich zwanzig war. Der Engel Moroni war zum Einschlafen!«
J. C. brüllte vor Lachen und klopfte sich auf seine Wundmale.
»So langweilig! Und was ist mit Aimee Semple McPherson!?«
»Freunde aus der High School haben mich einmal dazu angestiftet, auf die Bühne zu stürzen und mich ›retten‹ zu lassen. Ich raste los und kniete nieder. Sie legte ihre Hand auf meinen Kopf. Herr, errette den Sünder, schrie sie. Glory, Hallelujah! Ich wankte nach unten und fiel in die Arme meiner Freunde!«
»Mensch!« schrie J. C. »Aimee hat mich gleich zweimal errettet! Dann wurde sie beerdigt. Im Sommer ’44? Dieser große Bronzesarg? Den mußten sechzehn Pferde und ein Bulldozer den Hügel zum Friedhof hinaufziehen. Mann, Aimee hat sich naturidentische falsche Flügel wachsen lassen! Der guten alten Nostalgie willen besuche ich ihren Tempel hin und wieder. Mein Gott, wie ich sie vermisse. Sie berührte mich wie Jesus, mit allem pfingstlichen Pomp. Zum Schießen!«
»Und jetzt sind Sie hier gelandet«, sagte ich, »als Vollzeitjesus bei Maximus. Seit den goldenen Zeiten mit Arbuthnot.«
»Arbuthnot?« Über J. C.s Gesicht huschten Schatten der Erinnerung. Er schob seinen Teller von sich. »Los jetzt. Stell mich auf die Probe. Frag schon! Altes Testament. Neues.«
»Das Buch Ruth.«
Er rezitierte zwei Minuten lang Ruth.
»Salomon.«
»Ich liefere dir den ganzen Sermon.« Was er auch tat.
»Johannes?«
»Tolle Sachen! Das letzte Abendmahl nach dem Letzten Abendmahl!«
»Was?« fragte ich ungläubig.
»Vergeßlicher Christ! Das Letzte Abendmahl war nicht das letzte Abendmahl. Es war das Vorletzte Abendmahl! Tage nach der Kreuzigung und der Grablegung erlebte Simon, genannt Petrus, am See Tiberias zusammen mit den anderen Jüngern das Wunder mit den Fischen. Am Ufer wurden sie einer bleichen Erscheinung gewahr. Als sie näher kamen, erblickten sie einen Mann, der vor einem Kohlenfeuer mit Fischen stand. Sie sprachen ihn an und wußten, daß es Christus war, der ihnen ein Zeichen gab und sprach: ›Nehmet von diesem Fisch und gebet Euren Brüdern zu essen. Nehmet meine Worte und ziehet durch die Städte und predigt allda das Vergeben der Sünden.‹«
»Nicht zu fassen«, hauchte ich.
»Erbaulich, was?« sagte J. C. »Erst das Vorletzte Abendmahl, das da-Vinci-Abendmahl, und hinterher das Allerallerletzte Abendmahl mit den auf Holzkohle gebratenen Fischen, am Ufer des See Tiberias, wonach Christus von ihnen ging, um für alle Zeit in ihrem Blute, in ihrem Geiste und in ihren Seelen bei ihnen zu sein. Finis.«
J. C. verbeugte sich und fügte dann hinzu: »Laß dich vom Evangelium inspirieren, insbesondere Johannes! Nicht an mir ist es zu geben, sondern an Euch zu empfangen! Und jetzt raus, bevor ich meinen Segen rückgängig mache!«
» Haben Sie mich denn gesegnet?«
»Die ganze Zeit über, als wir uns unterhielten. Die ganze Zeit über. Geh jetzt.«
31
Ich streckte meinen Kopf in den Vorführraum 4 und fragte: »Wo ist Judas?«
»Das ist die Parole!« rief Fritz Wong. »Hier sind drei Martinis. Trinken Sie!«
»Ich hasse Martinis. Außerdem, Miss Botwin, muß ich zuerst folgendes loswerden.«
»Nennen Sie mich Maggie«, sagte sie leicht amüsiert. Die Kamera lag in ihrem Schoß.
»Ich habe, seit ich denken kann, von Ihnen gehört, ich bewundere Sie seit Jahren. Ich muß Ihnen einfach sagen, daß ich sehr glücklich darüber bin, Gelegenheit zu haben, mit Ihnen zu arbeiten –«
»Schon gut, schon gut«, sagte sie freundlich. »Aber Sie täuschen sich. Ich bin kein Genie. Ich bin … wie heißen doch gleich diese Viecher, die über die Teiche huschen und nach Insekten suchen?«
»Wasserläufer?«
»Ein Wasserläufer! Eigentlich müßten die Dinger doch untergehen, aber sie gleiten auf einem dünnen Film auf der Wasseroberfläche. Eine Sache der Oberflächenspannung. Sie verteilen ihr Gewicht, strecken Armchen und Beinchen aus und machen den Film nicht kaputt. Also, wenn das nicht ich bin. Ich verteile mein Gewicht, strecke alle viere von mir und versuche den Film, auf dem ich herumschlittere, nicht kaputtzumachen. Bis jetzt bin ich noch nicht untergegangen. Aber ich bin nicht vollkommen, und es ist auch kein Wunder, bloß stinknormales Glück, von Anfang an. Trotzdem vielen Dank für Ihr Kompliment, junger Mann. Jetzt aber das Kinn in die Höhe und getan, was Fritz befiehlt. Die Martinis. Sie werden gleich sehen, daß ich bei dem, was gleich auf Sie zukommt, keine Wunder vollbracht habe.« Sie wandte mir ihr feines Profil zu und rief nach hinten zur Vorführkabine: »Jimmy? Jetzt!«
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