»Wann?«, fragte Lauenstein.
»Um halb sieben geht es los.«
»Welcher Rangierbahnhof ist es?«, fragte ich.
»Montzen.«
»Montzen?«, fragten Lauenstein und ich wie aus einem Mund.
»Belgien«, sagte Troll. »Ich glaube, ihr solltet euch sputen.«
Wir blickten uns überrascht an. Mir jedenfalls wurde erst in diesem Moment klar, dass wir beide gemeinsam auf die Jagd nach einer Leiche gehen würden. Ich fühlte mich in eine dieser Hollywoodkomödien versetzt, die ihren Spaß daraus ziehen, ein ungleiches Paar mit Handschellen aneinanderzuketten und peinlichen Situationen auszusetzen. Genau das stand Lauenstein und mir bevor.
Bevor ich etwas Sinnvolles sagen konnte, klingelte sein Handy. Mit einem leisen, warmen Glockenklang. Lauenstein nestelte hektisch in seiner Tasche, zog das Gerät heraus und meldete sich.
»Ja, das ist richtig«, sagte er in einem Tonfall, den ich eher bei einem evangelischen Krankenhausseelsorger vermutet hätte und der so klang, als fehle jetzt nur noch das »mein Sohn«.
»Selbstverständlich«, murmelte er weiter mit dieser samtigen Wärme in der Stimme. »Ich komme.«
Er klappte sein Telefon zu, blickte mich erst unsicher, dann zerknirscht an, straffte schließlich aber die Schultern und sagte in fast geschäftsmäßigem Tonfall: »Ich fürchte, Sie müssen allein nach Belgien fahren.«
Einen Augenblick glaubte ich noch, mich verhört zu haben, aber die steile Falte zwischen seinen Augenbrauen machte mir klar, dass dies weder ein Missverständnis noch ein Witz war. Er erwartete allen Ernstes von mir, dass ich allein loszog. Ich schüttelte den Kopf.
»Das kommt gar nicht in…«
»Dies ist ein Notfall«, sagte er mit Blick auf sein Telefon. »Ein Todesfall.«
»Haben Sie gelegentlich auch Umgang mit Lebenden?«, warf Troll ein.
Lauenstein warf ihr einen missmutigen Blick zu.
»Es tut mir wirklich leid.« Er stockte, sammelte sich. »Ich hoffe inständig, dass Sie das wieder in Ordnung bringen können.«
Er stand auf, machte einen Schritt zur Tür, zögerte, kam zurück zum Tisch und streckte mir in einer linkischen Geste die Hand hin, die ich ergriff. Sein Händedruck war warm und fest.
»Tja, wenn’s was zu tun gibt, hauen die Kerle ab«, sagte Troll, die mit verschränkten Armen und verschlossenem Gesichtsausdruck neben dem Tisch stand. Lauenstein warf ihr einen düsteren Blick zu, nickte zum Abschied und zog die Tür hinter sich zu.
Ich hockte am Tisch und starrte hinter ihm her. Gerade eben war er mir fast sympathisch gewesen, aber das schob ich jetzt auf meinen Fieberwahn. Weder sein schüchternes Lächeln noch sein lausbübisches Grinsen noch sein unerwarteter Humor konnten die Tatsache aufwiegen, dass er sich in dem Moment, in dem es ernst wurde, verdrückte.
»Du hast doch nicht wirklich vor, nach Belgien zu fahren?«, fragte Troll. »Du siehst beschissen aus, bist todkrank und du hast Fieber.«
Ich nickte. Ich fühlte mich in der Tat beschissen, todkrank und fiebrig. Und ich hatte ganz sicher keine Lust auf eine Spritztour nach Montzen, um dort eine Leiche aus einem Waggon herauszuzerren, in den ich sie erst unter größter Anstrengung hineingehievt hatte. Andererseits hat meine Oma mir beigebracht, dass man seine Dummheiten selbst ausbügeln muss. Ich hatte keine Wahl. Komischerweise schien mich Troll auch ohne Antwort zu verstehen.
Sie warf einen Blick auf ihre Uhr, schnappte sich die Tüte mit dem letzten Mürbchen und sagte: »Ich hatte heute sowieso nichts Besonderes vor und dich kann ich in dem Zustand unmöglich allein lassen. Ich fahre.«
Ich konnte mein Glück kaum fassen, griff nach meinem Schlüsselbund und lief Troll nach, die bereits auf dem Bürgersteig stand und mit bloßen Händen den frischen Schnee von meinem Auto fegte.
Den Weg nach Montzen verschlief ich zum größten Teil. Ab und zu schreckte ich hoch und fühlte mich wie gerädert, als Troll mich endlich weckte.
Wir standen vor einem verschlossenen Tor.
»Mist«, entfuhr es mir. »Wie kommen wir da rein?«
»Von hier aus jedenfalls nicht.«
Sie setzte den Wagen zurück und fuhr an der Absperrung entlang. Der Zaun war drei Meter hoch und machte einen sehr stabilen Eindruck. Und er war unendlich lang.
»Du lieber Himmel«, sagte ich. »Wie finden wir auf diesem riesigen Gelände den richtigen Waggon?«
»Er steht bei P23«, sagte Troll, als wäre damit alles gesagt.
Mein Kopf fühlte sich an, als wolle er gleich platzen, vermutlich waren alle Nebenhöhlen mit dickem, grünem Eiter vollgestopft. Die Hustenanfälle kamen in Dreißig-Sekunden-Abständen, jedes Mal glaubte ich, dass ich ein Stückchen Lunge ausspucken würde. Ich war nicht in der Lage, die ominösen P23 zu hinterfragen. Mir war alles egal. Ich vertraute mich Troll komplett an. Sie würde es schon richten.
Dort, wo die Straße vom Bahngelände wegführte, endete der Superzaun. Troll fuhr ein paar Meter in einen Waldweg und parkte.
»Woher kennst du dich hier aus?«, fragte ich jetzt doch neugierig.
»Ich habe meine Quellen.«
»Richard?«
»Zum Beispiel.«
Wir stiegen aus, gingen die Böschung hoch und kamen an den alten Zaun des Bahngeländes. Löchrig und halb verrottet, ein Witz im Gegensatz zu der Hochsicherheitsgrenzbefestigung, die den südlichen Teil des Areals abschirmte. Problematisch waren nur die Ilex-Hecke und das Brombeergestrüpp. Troll ging auf der Suche nach einer Lücke an dem Dickicht entlang, ich stolperte auf dem Schneematsch hinter ihr her. Endlich hatten wir den Durchgang gefunden, von dem meine Führerin offenbar gewusst hatte, dass er hier irgendwo sein musste. Der geheimnisvolle Richard schien sich wirklich sehr gut auszukennen. Über die Gründe für seine detaillierte Kenntnis illegaler Schleichwege auf ein Güterbahngelände wollte ich lieber nicht spekulieren.
Wir schlüpften durch das Loch. Troll wandte sich nach links, ich folgte ihr. Das Rumpeln der Züge, die hier zusammen- oder auseinandergekoppelt wurden, das Quietschen der Bremsen und das Pfeifen der Lokomotiven erfüllte die kalte, neblige Luft mit einem unheimlichen Krach. Während wir an Gleisen entlangschlichen und über Puffer kletterten, hatte ich ständig Angst, dass genau dieser Zug in genau diesem Moment losfahren und uns zerquetschen würde. Einmal war es nahe dran, aber wie durch ein Wunder blieben wir verschont.
Ich glühte inzwischen vor Fieber und fühlte mich wie in einem Cyberanzug. Zwar hatte ich den Eindruck, hier zu sein, aber gleichzeitig war ich mir sicher, dass dies nicht die echte Wirklichkeit war. Würde ich so etwas in einem Roman lesen, fände ich es garantiert unglaubwürdig und konstruiert. Ich fing an, mich selbst zu bemitleiden.
Hätte ich mich doch niemals selbstständig gemacht. Ich musste größenwahnsinnig gewesen sein. Für dieses Leben war ich einfach nicht geschaffen. Man sah ja, wohin das führte. Als arbeitslose Werbekauffrau hätte ich mich einige Monate in der sozialen Hängematte ausruhen können, um dann irgendwann einen schlecht bezahlten Job bei einem narzisstischen Wichtigtuer anzunehmen. Hätte regelmäßig in dessen geweitete Nasenlöcher geschaut und so getan, als würden sowohl dieser Anblick als auch sein dummes Gerede mich völlig verzücken. Wäre das wirklich so schlimm gewesen? Nein. In diesem Moment kam mir diese Vorstellung wie der Himmel auf Erden vor.
Stattdessen würde mich vermutlich gleich die Bahnpolizei erwischen, wie ich gerade mit einer Leiche über der Schulter das Gelände verließ. Das wäre dann unbefugtes Betreten und Diebstahl. Vielleicht würden sie mir sogar einen Mord in die Schuhe schieben.
Mord!
Wie hatte ich nur so dämlich sein können, Lauenstein seine lächerliche Version vom sanft entschlafenen Papa abzukaufen? Vermutlich hatte er ihn auf niederträchtigste Art und Weise vom Leben zum Tode befördert und das würde man nun mir anhängen. Ich schluchzte laut auf.
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