Lauenstein legte das Gesicht in die Hände. »Diese Idee ist mir ja erst später gekommen. Als ich nach Hause kam, war ich fix und fertig. Ich habe den Mann erst einmal in die Kühlkammer gelegt, weil ich nicht wusste, wie es weitergehen sollte. Dann habe ich nach alten Fotos von meinem Vater gesucht. Ich war vollkommen durcheinander.«
»Und wann ist Ihnen die Idee dann gekommen?«
»Am nächsten Morgen. Ich wollte ihn finden, wenn ich von dem Kongress wiederkam. Dann hatte ich eine gute Ausrede, dass ich ihn nicht früher bemerkt hatte.«
Einen Augenblick war es still. Ich erinnerte mich an die Nacht, in der ich Lauenstein wie ein aufgescheuchtes Huhn durch sein Haus hatte laufen sehen. Das war ein paar Stunden, nachdem ich, wie der dumme Zufall es wollte, erst einen harmlosen Stadtstreicher vor seinem Haus gesehen und dann, nach dem Putzen, die Tür offen gelassen hatte. Während ich Lauenstein nachts beobachtete, lag die Leiche seines Vaters bereits in der Kühlkammer und der Hausherr suchte in seiner Verzweiflung nach Fotos, die die Identität des Toten beweisen konnten. Kein Wunder, dass er sich wie ein Irrer benommen hatte.
»Jetzt stehe ich ziemlich dämlich da«, sagte Lauenstein. »Ich gehe davon aus, dass der Mann mein Vater war, nur ist er jetzt leider wieder verschwunden. Wenn die Leiche nicht wieder auftaucht, wird es Jahre dauern, bis sein Tod offiziell festgestellt werden kann.«
»Aber die Polizei wird doch die Leiche irgendwann finden und kann dann immer noch seine Identität feststellen«, sagte ich.
»Unwahrscheinlich«, sagte Lauenstein tonlos.
Ich überlegte fieberhaft. »Doch, bestimmt. Immerhin haben Sie diese Vermisstenanzeige aufgegeben. Wenn also irgendwo eine anonyme Leiche auftaucht, wird man wohl so schlau sein und die Liste der verschwundenen Personen abgleichen und dann…«
»Vielleicht«, sagte Lauenstein. »Vielleicht auch nicht. Das ist alles viel zu unsicher. Ich muss es aber jetzt wissen, verstehen Sie?«
Er lehnte sich plötzlich über den Tisch und ergriff meine Hand. »Bitte sagen Sie mir, was mit der Leiche passiert ist«, flehte er mich beinahe an.
Oho, Generalangriff. Ich war nervös, bekam kaum einen Ton heraus. »Wie kommen Sie darauf, dass ich…«
»Die Nachbarin von gegenüber hat Ihren Wagen am Tag nach meiner Abreise aus meiner Einfahrt kommen gesehen.«
Die alte Schnepfe!
»Ich weiß, dass Sie noch mal da waren. Sie sind der einzige Mensch außer meiner Mutter und mir, der einen Schlüssel hat. Was haben Sie in meinem Haus gemacht? Und wo um Himmels willen ist die Leiche?«
Seine Stimme war immer lauter geworden, allerdings nicht vor Wut, sondern eher vor Verzweiflung. Die Hand, die erst auf meinem Arm lag, zog an meinem Ärmel. Je zappeliger Lauenstein wurde, desto ruhiger wurde ich. Diesen Wesenszug hatte ich von meiner Oma, da war sich die ganze Familie einig. In unserer Familie sind die Frauen das starke Geschlecht.
»Als ich montags zum Putzen kam, habe ich vor dem Tor einen Obdachlosen gesehen und, nachdem ich bei Ihnen geputzt habe, die Kühlraumtür nicht ordentlich verschlossen.«
Lauenstein hing an meinen Lippen.
»Wegen der offenen Tür bin ich am nächsten Tag zurückgekommen. Ich hatte Angst, dass ein Einbrecher durch den Kühlraum in Ihr Haus kommt und alles ausräumt.«
»Und da sind Sie direkt über die Leiche gestolpert«, flüsterte Lauenstein.
»Ich dachte, es sei der Obdachlose, der sich ein nettes Plätzchen gesucht hätte«, erklärte ich. »Also habe ich ihn weggeschafft.«
Lauenstein starrte mich mit entsetzt aufgerissenen Augen an. »Sie haben nicht die Polizei gerufen? Oder einfach die Tür zugemacht und das Weite gesucht?«
So, wie er das sagte, klang es, als seien beide Handlungsweisen vollkommen richtig und vernünftig gewesen. Waren sie vermutlich auch. Aber ich hatte das Problem auf meine Art lösen wollen. Ich schüttelte beschämt den Kopf.
»Wohin haben Sie ihn gebracht?«
»Das kann ich Ihnen nicht sagen.«
Er stierte mich unverwandt an und ich fühlte, wie mir das Blut in die Wangen schoss, und hörte es in den Ohren rauschen. Ich blinzelte, drehte den Kopf weg. Meine Augen wanderten über die Fensterbank, auf der der sterbliche Überrest einer Basilikumpflanze langsam zu Staub zerfiel. Asche zu Asche, Staub zu Staub. War ich denn nur noch vom Tod umgeben?
»Na ja«, murmelte ich, »ich kann Ihnen sagen, wo ich die Leiche hingebracht habe, aber – da ist sie nicht mehr.«
Lauenstein machte eine auffordernde Handbewegung.
»Ich habe sie in einen leeren Güterwaggon gelegt, der kurz darauf losfuhr«, sagte ich.
Er griff sich in die wirr vom Kopf abstehenden Haare. »Ich kann es nicht fassen. Was haben Sie sich denn nur dabei gedacht? Wie haben Sie es überhaupt geschafft, einen fünfzig Kilo schweren Toten da hineinzulegen?«
Ich grinste schief und unbeholfen und staunte im Nachhinein über mich selbst. Die drei Tage, die der Tote in meinem Kofferraum verbracht hatte, unterschlug ich Lauenstein wohl besser.
»Wohin fuhr der Zug?«
Ich zuckte mit den Schultern.
Lauenstein verschränkte die Hände auf der Tischplatte und ließ den Kopf darauf sinken. Oh, mein Gott, er tat mir so leid.
»Die Leiche wird spätestens gefunden, wenn der Waggon beladen werden soll, und dann vergleicht die Polizei die Beschreibung mit der Vermisstenliste und identifiziert…«, wiederholte ich.
Lauenstein schüttelte den auf den Händen liegenden Kopf, was zu seltsamen Verrenkungen führte, die sich über Schultern und Wirbelsäule fortsetzten. Er erinnerte mich an einen Regenwurm, den man mit der Harke aus dem Boden gezogen hat und der sich nun auf dem Stahlhaken windet.
»Wie sollen sie ihn identifizieren?«, fragte er dumpf.
»Wie man das halt so macht«, entgegnete ich. »An den Fingerabdrücken, der DNA, den Zäh…« An der Stelle stockte ich, als mir die Sache mit dem Gebiss wieder einfiel.
Lauensteins Kopf ruckte hoch. »Sie haben das Gebiss bemerkt?«
»Es ist ihm aus dem Mund gefallen, als ich…«
»Weil es ihm nicht passte«, sagte er. »Es war nicht seins.«
»Wie bitte?« Da war er wieder, der Würgereiz.
»Haben Sie eine Ahnung, wie teuer ein Gebiss ist?«, fragte er.
Ich schüttelte den Kopf. Woher sollte ich das wissen? Ich besaß noch alle Zähne einschließlich der Weisheitszähne, hatte nur drei Plomben und musste mir jedes Jahr anlässlich der Routineuntersuchung von meinem Zahnarzt anhören, dass er von Leuten wie mir nicht leben könne.
»Viele Menschen tragen Gebisse, die sie secondhand gekauft oder geschenkt bekommen haben«, sagte Lauenstein. »Das ist zwar nicht besonders bequem, aber besser als nichts, vermute ich.«
Wir versanken wieder in Schweigen.
»Was ist mit Fingerabdrücken?«
»Dafür müsste man früher bereits Abdrücke genommen haben, um sie jetzt vergleichen zu können. Mein Vater ist aber nie erkennungsdienstlich behandelt worden.«
»Die DNA?«, schlug ich nochmal vor.
»Eine DNA-Probe von der Leiche müsste man mit einer Probe von meinem Vater vergleichen«, sagte Lauenstein. »Aber er hat leider keine Haarsträhne an seinen Abschiedszettel geklebt. Also bleibt nur ein DNA-Vergleich zwischen ihm und mir. Das ist teuer. Ich bin mir nicht sicher, ob jeder beliebige Dorfpolizist, der einen toten Obdachlosen findet, die ganze Palette an Identifizierungsmöglichkeiten rauf und runter arbeitet. Vielleicht lässt er ihn einfach anonym verscharren. Ist bestimmt weniger Aufwand.«
Ich hatte bisher keine Erfahrungen mit der Polizei gemacht, weder positive noch negative, konnte also nicht einschätzen, wie der von Lauenstein zitierte beliebige Dorfpolizist mit der anonymen Leiche eines Obdachlosen umgehen würde.
»Wir müssen ihn finden«, sagte Lauenstein und drückte meinen Arm mit beiden Händen. »Erinnern Sie sich! Bitte! In welchen Waggon auf welchem Zug haben Sie ihn gelegt?«
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