Das fragte ich mich auch. Ich hatte nie einen Hang zum Schwarzsehen, glaube an das Gute im Menschen und wäre noch vor wenigen Tagen niemals auf solche Gedanken gekommen. Offenbar hatten die Ereignisse deutliche Spuren in der Wahrnehmung meiner Umwelt hinterlassen. Das konnte ich natürlich nicht zugeben, denn dann hätte ich ja gleich die ganze Geschichte erzählen müssen.
»Ich lese wohl zu viele Krimis«, murmelte ich, obwohl ich seit Monaten kein Buch angerührt hatte.
Lauenstein beruhigte sich wieder. »Mein Vater ist vor vierzehn Jahren verschwunden. Abgehauen. Er hat den beruflichen Stress nicht mehr ertragen. Das stand zumindest auf dem Zettel, den er an die Kühlschranktür gepinnt hatte.«
Ich schwieg. Nippte an meinem Kaffee. Jede Äußerung konnte unter Umständen gegen mich verwandt werden, also presste ich die Lippen zusammen, solange ich nicht trank.
Lauenstein nippte an seinem Kaffee, gedankenverloren.
Ich machte den Mund auf, um ihn auf die verdorbene Milch hinzuweisen, aber dann ließ ich es sein. Ich wollte ihn nicht ablenken. Ein bisschen verdorbene Milch würde ihn schon nicht umbringen. Und wenn doch – mit der Beseitigung von Leichen kannte ich mich ja jetzt aus. Hahaha…
»Im Herbst beschloss meine Mutter, den wiederholten Heiratsantrag ihres langjährigen Freundes anzunehmen und ihn zu heiraten. Anfang des Jahres zog sie zu ihm und ich engagierte Sie.« Er lächelte leicht, wurde dann aber wieder ernst. »Außerdem will sie mir die Firma überschreiben und sich ganz aus dem Geschäft zurückziehen.«
Ich nickte und zügelte meine Ungeduld. Was hatte das mit der Leiche zu tun?
»Man kann aber nicht neu heiraten, wenn man nie geschieden worden ist«, sagte Lauenstein.
Aha, jetzt kamen wir der Sache näher. Der abgehauene Ehemann störte also doch. Ich nickte.
»Und man kann auch kein Geschäft auf einen neuen Inhaber übertragen, wenn ein Inhaber von fünfzig Prozent der Anteile nicht auffindbar ist. Der Sohn, der eigentlich seit fünf Jahren das Geschäft führt, kann nicht zum Geschäftsführer bestimmt werden, wenn die GmbH beiden Eltern gehört und nur ein gemeinsamer Gesellschafterbeschluss einen neuen Geschäftsführer berufen kann.«
Das ging mir jetzt ein bisschen schnell, aber durch meine eigene Existenzgründung hatte ich doch immerhin so viel Kenntnisse, dass ich ungefähr verstand, wo das Problem lag. Lauensteins Vater wurde gebraucht. Damit er seine Frau freigeben, seine Gesellschaftsanteile übertragen und seinen Sohn zum Geschäftsführer machen konnte.
Hier ging es zwar lediglich um die Legalisierung längst bestehender Verhältnisse, aber wenn diese Legalisierung nun zwingend nötig war, musste der Vater her und die notwendigen Unterschriften leisten.
Oder…
»Kann man denn jemanden, der seit vierzehn Jahren verschwunden ist, nicht für tot erklären lassen?«, fragte ich.
Lauenstein nickte, aber ein zynisches Lächeln legte sich um seine Mundwinkel. »Klar. Außer, der Betreffende schreibt seiner ehemaligen Geliebten jedes Jahr eine Weihnachtskarte.«
»Oh.«
Einen Moment war es still.
Lauenstein tat mir leid, ehrlich. Trotzdem war mir immer noch nicht klar, wie die Leiche in den Kühlraum seines Hauses gekommen war. Und warum sie überhaupt da lag. Und warum er nicht genau wusste, ob das sein Vater war.
»Wie kam denn nun Ihr Vater in den Kühlraum?«, fragte ich.
»Ob er mein Vater ist, weiß ich ja noch gar nicht sicher«, entgegnete er mit einer abwehrenden Geste. »Eine Suchmeldung bei der Polizei brachte nichts. Also habe ich einen Detektiv beauftragt, ihn zu finden«, sagte Lauenstein.
»Anhand der Weihnachtskarte«, riet ich.
»Genau.«
Langsam begriff ich, was für einen Aufwand Lauenstein betrieben hatte, um seinen Vater zu finden. Nur um ihn dann gleich wieder zu verlieren. Geklaut. Aus seinem eigenen Kühlraum. Mir stieg das Blut in den Kopf.
»Der Detektiv hat ihn gefunden?«, fragte ich schnell, um noch ein bisschen Aufschub zu bekommen.
»Er hat jemanden gefunden, der vermutlich mein Vater ist«, präzisierte Lauenstein. »In Dresden. Mein Vater liebte Dresden, seine Eltern kamen von dort.«
»Und er war obdachlos?«, fragte ich.
»Ja. Kaum vorstellbar, was? Mein Vater war schon immer… äh… anders gewesen.« Lauenstein schwieg kurz, fast andächtig.
»Ich bin also nach Dresden gefahren und habe diesen Mann tatsächlich gefunden.« Er trank noch einen Schluck von dem flockigen Kaffee, verzog das Gesicht, blickte in die Tasse, stellte sie weit von sich auf den Tisch und fuhr sich mit der Hand über die Augen. »Aber ich konnte nicht erkennen, ob es wirklich mein Vater ist.«
Ich schluckte. »Warum denn nicht?«
»Weil ich ihn vor vierzehn Jahren das letzte Mal gesehen habe und er zu der Zeit sechzig Kilo mehr wog als der Mann, dem ich in Dresden gegenüberstand. Weil der Penner sturzbesoffen war und mich auch nicht erkannte. Er war noch nicht einmal in der Lage, mir zu sagen, wie er heißt oder ob er den Namen Lauenstein kennt.«
»Und da haben Sie ihn ins Auto gesetzt und mitgenommen«, sagte ich.
»Ich hatte nicht die Zeit, ihn in Dresden auszunüchtern und abzuwarten, ob er sich an seinen Namen erinnert, wenn in seinen Adern wieder Blut statt Fusel fließt.«
»Sie haben ihn also mitgenommen, obwohl Sie überhaupt nicht wussten, ob dieser Mann Ihr Vater ist?«
Lauenstein nickte unglücklich.
»Was hätten Sie denn in Düsseldorf mit ihm gemacht, wenn sich herausgestellt hätte, dass er der Falsche ist?«
»Der Mann hatte genau so eine Narbe am Handrücken wie mein Vater«, murmelte er. »Außerdem fehlte ihm ein kleiner Teil des linken Ohrläppchens. Beide Verletzungen hatte ihm ein Hund beigebracht, da war mein Vater fünf Jahre alt gewesen. Ich war mir also ehrlich gesagt doch ziemlich sicher, dass er der Richtige war.«
»Aber als Sie ihn in Ihr Auto setzten, lebte er noch?«
Er nickte.
»Und wann starb er?«
»Kurz hinter Kassel.«
Du meine Güte, das muss man sich mal vorstellen: Da sitzt ein fremder Mann auf dem Beifahrersitz, der erst noch ein bisschen vor sich hinlallt, dann einschläft und schnarcht. Und irgendwann ist er plötzlich still. Ein paar Kilometer weiter kommt die Erkenntnis, dass der Kerl, den man gerade erst wiedergefunden hat, vermutlich der eigene Vater und gerade neben einem gestorben ist. Einfach so. Ich spürte, wie eine Gänsehaut über meinen Rücken kroch.
»Und dann sind Sie den ganzen Weg von Kassel nach Düsseldorf mit einer Leiche auf dem Beifahrersitz…«
Lauenstein schüttelte den Kopf. »Ich konnte ihn natürlich nicht dort sitzen lassen, denn dann hätte seine Haltung verraten, dass er auf einem Autositz gestorben ist. Wenn die Leichenstarre erst mal eingesetzt hat, hätte man vielleicht sogar beweisen können, dass der Tod auf meinem Beifahrersitz eintrat. Ich bin also von der Autobahn abgefahren, in einen Forstweg rein und habe ihn in den Kofferraum gelegt. Eine liegende Stellung hielt ich für ungefährlich. Viele Obdachlose sterben im Winter während des Schlafs. Im Liegen.«
Jetzt wurde er mir unheimlich. Woher wusste er das alles?
»Was hatten Sie mit der Leiche vor?«, fragte ich etwas atemlos.
»Ich wollte sie in einer dunklen Ecke auf unserem Grundstück ablegen, sie zufällig finden und dann die Polizei rufen. Meine Mutter hätte glauben können, dass Vater sie noch einmal habe wiedersehen wollen. Vielleicht hätte sie ihm dann sogar vergeben und ihren Frieden mit ihm machen können. Und die Polizei hätte seine Identität feststellen können. Damit wäre alles optimal geregelt gewesen. So einigermaßen zumindest«, lenkte er ein.
»Aber warum haben Sie das denn nicht direkt nach Ihrer Rückkehr getan?«
Ich hoffte, dass meine Stimme nicht allzu vorwurfsvoll klang, aber ich fürchtete, dass man meinen ganzen Frust in dieser Frage hören konnte. Tatsächlich hätte er mir jede Menge Ärger erspart, wenn er die Leiche gleich nach der Rückkehr irgendwo unter einen Busch gelegt hätte, wo er sie bei Gelegenheit in aller Seelenruhe hätte »finden« können. In der Regel schaue ich bei meinen Kunden nicht unter die Büsche, um dort nach Leichen zu suchen. Wir hätten uns beiden viel Ärger und Kummer erspart.
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