»Frau Leyendecker? Sind Sie das?«
Mein »Ja« ging in einen Hustenanfall über.
»Ich, ich, also, ich weiß nicht, wie ich anfangen soll…«, stammelte Lauenstein.
»Moment«, krächzte ich, legte den Hörer hin, holte mir ein Glas Wasser und trank gierig.
»Hm?«, meldete ich mich wieder.
»Ich habe ein Problem«, sagte Lauenstein. Er sprach abgehackt, schnell und irgendwie wirr. Er klang wie jemand, dessen Problem so groß ist, dass er nicht weiß, wie er es in Worte fassen soll. Der sich nicht traut, es anzusprechen, es aber gleichzeitig möglichst schnell hinter sich bringen will. Er klang wie jemand, der am Rande der Verzweiflung steht und Hilfe benötigt. Ich fühlte mich allerdings nicht in der Lage, mich um Herrn Lauensteins oder um irgendjemandes Probleme zu kümmern. Das Einzige, was ich wollte, war meine Ruhe, eine Kopfschmerztablette, zwei Liter Wasser und viele Stunden Schlaf.
»Es tut mir leid«, begann ich und musste wieder husten.
»Mir ist etwas abhandengekommen«, sagte Lauenstein. Er musste sehr laut sprechen, um gegen meinen Husten anzukommen.
Augenblicklich hielt ich inne. Der Husten war wie weggeblasen.
»Mir ist etwas abhanden… Ach, das kann ich jetzt so am Telefon nicht erklären.«
»Was haben Sie gesagt?«, krächzte ich.
»Sind Sie krank?«, fragte Lauenstein. »Sie klingen so anders.«
Mir lag eine pampige Erwiderung auf der Zunge, aber ich begnügte mich mit einem heiseren »Ja«.
»Ich komme zu Ihnen«, erklärte er mit fester Stimme. »Ist die Firmenadresse auch Ihre Privatadresse?«
»Ja.«
»Bis gleich.«
Das Tuten aus dem Hörer riss mich aus meinem Schockzustand. Lauenstein kam her? Jetzt? Am Sonntagmorgen? Ja, hatte sich denn die ganze Welt gegen mich verschworen?
Ich legte den Hörer auf die Gabel, schlurfte ins Bad und stellte fest, dass ich noch nicht einmal die Kraft hatte, über meinen Anblick zu erschrecken. Die Ringe unter den Augen hatten die Größe von Untertassen, das Haar war strähnig und fettig, die Lippen aufgesprungen und die Haut schuppig und bleich. Ich entledigte mich meines durchgeschwitzten Flanellnachthemdes und duschte ausgiebig. Danach fühlte ich mich etwas besser.
Immerhin war ich angezogen, als Lauenstein zwanzig Minuten später klingelte, wenn ich mich auch noch nicht in dem Zustand befand, in dem ich normalerweise soziale Kontakte pflege.
Aber das war Lauenstein auch nicht.
Er sah so aus wie ich vor dem Duschen: bleich, übernächtigt, sorgenvoll. Immerhin trug er keinen schwarzen Anzug, sondern blaue Jeans und einen dicken Strickpullover mit Zopfmuster. Ich hätte ihn fast nicht wiedererkannt. Er sah fast wie ein normaler Mensch aus. Na gut, wie ein sorgenvoller, normaler Mensch.
»Oje, Sie sehen ja grässlich aus«, begrüßte er mich.
»Danke«, entgegnete ich automatisch.
Er wurde rot. »Äh, nein, so meinte ich das nicht. Sie sehen genauso bezaubernd aus wie immer, nur, äh, man sieht, dass Sie erkältet…« Seine Stimme verebbte.
Bezaubernd! Noch nie in den einunddreißig Jahren meines Lebens hatte ein Mann mich bezaubernd genannt. Ich starrte ihn einen Moment vollkommen fassungslos an, er starrte verlegen zurück.
»Hier«, quetschte er dann endlich heraus und hielt eine Brötchentüte hoch. »Sie haben bestimmt noch nicht gefrühstückt, oder? Ich nämlich auch nicht.«
Ich schüttelte den Kopf, nahm die Tüte entgegen und goss zwei Tassen Kaffee ein. Die Tüte enthielt das, was in Düsseldorf »Mürbchen« heißt, also Milchbrötchen mit Rosinen. Mein Leibgericht, das Oma früher immer extra für mich zum Sonntagsfrühstück besorgt hatte. Ich war gerührt. Vollkommen zu Unrecht natürlich, denn Lauenstein kannte die Bedeutung dieses Backwerks für mich ja gar nicht und hatte vermutlich einfach irgendetwas gekauft. Trotzdem nett von ihm. Wäre die Situation nicht so völlig abstrus gewesen, hätte er mir vielleicht sogar sympathisch sein können.
Der Mürbchenbote stand wie eine Steinstatue in der Ecke der Wohnküche herum und fühlte sich sichtlich unwohl. Geschieht ihm recht, dachte ich. Trotzdem machte er mich irgendwie nervös.
»Nehmen Sie doch Platz«, forderte ich ihn auf.
Er setzte sich an den Tisch, ich stellte Kaffeetasse und Teller vor ihn und setzte mich ihm gegenüber.
»Also, was führt Sie am Sonntagmorgen hierher?«, fragte ich. Die Erwähnung des Wochentags sowie der Tageszeit wollte ich mir nicht verkneifen, Kunde hin oder her.
Er räusperte sich. »Also – wie soll ich es sagen? Aus meinem Kühlraum ist etwas verschwunden«, begann Lauenstein. Er musterte mich mit einem gequälten Blick aus seinen müden Augen.
Ich verschluckte mich an meinem Kaffee und hustete laut und lang. Dabei versuchte ich, mein Entsetzen zu verbergen.
Der Kühlraum!
Allein die Erwähnung dieses Wortes trieb mir den kalten Schweiß auf die Haut. Ich hustete weiter und räusperte mich noch mehrfach, wollte Zeit schinden.
Lauenstein wartete ab, bis ich mich wieder beruhigt hatte.
Irgendetwas musste ich sagen, also versuchte ich es mit einem neutralen »Was denn?«
Er zögerte. Wand sich auf seinem Stuhl. Trank noch einen Schluck Kaffee, nahm das Mürbchen, brach eine Ecke ab, die er mit Zeigefinger und Daumen zu einem kleinen pappigen Teigball zusammendrehte.
Er sah genau so aus, wie ich mich fühlte, dachte ich wieder.
Er straffte die Schultern und holte Luft. »Eine Leiche«, sagte er, machte den Mund auf und warf den Teigball hinein.
Ich starrte ihn an, während er hektisch auf dem Teigstückchen herumkaute und es dann mit übertrieben gestrecktem Hals wie ein Straußenvogel herunterschluckte.
Mein Gehirn hatte kurzzeitig jegliche Tätigkeit eingestellt. Nichtdenken hat auch was für sich, stellte ich fest. Doch dann schossen mir tausend Fragen durch den Kopf. »Verarschen Sie mich?« Das war mir einfach so rausgerutscht.
Lauenstein zuckte zusammen, als habe ihm jemand eine Kopfnuss gegeben. »Sehe ich etwa so aus?«
Ich zögerte kurz, schüttelte dann aber den Kopf. Genau genommen sah er wie ein Junge aus, der bei einer großen Dummheit erwischt wurde, aber bereit ist, dafür geradezustehen. Er wollte mich jedenfalls nicht hereinlegen, das war mir klar.
Alles andere allerdings war mir total unklar.
Er wusste also, dass in seinem Kühlraum eine Leiche gelegen hatte. Meine Interpretation der Situation damals war vollkommen falsch gewesen. Aber was war nur passiert? Nichts passte zusammen. Und solange Lauenstein mir nicht erklärte, was es mit der Leiche und seinem seltsamen Auftritt hier auf sich hatte, würde ich mir lieber die Zunge abbeißen, als meine unrühmliche Beteiligung in diesem Schauermärchen zuzugeben.
»Erzählen Sie mir die ganze Geschichte«, forderte ich ihn auf.
Er wand sich auf dem Stuhl, biss noch ein Stück vom Mürbchen ab, spülte mit einem Schluck Kaffee nach, verzog das Gesicht, sah unschlüssig aus und traute sich dann doch, nach Milch zu fragen. Ich war erleichtert, aufstehen und die Milch holen zu können, nur um dann festzustellen, dass diese schlecht war. Doch Lauenstein nahm auch die kleinen, gelben Flöckchen in seinem Kaffeebecher hin wie ein geprügelter Hund. Was hatte der Mann für ein Problem, verdammt noch mal?
»Die Leiche in meinem Kühlraum war mein Vater.«
Ich prustete in meinen Kaffee.
»Höchstwahrscheinlich.«
Mir fiel die Kinnlade herunter. Leider hatte ich noch Kaffee im Mund. Sehr unappetitlich. Lauenstein schien das zum Glück nicht zu bemerken, er starrte weiter in seine Tasse mit den Milchflocken.
»Meine Mutter will wieder heiraten«, sagte er.
»Und da hat sie ihn umgebracht?«
»Himmel, nein!« Der demütige Fatalismus verschwand aus seinem Gesicht und machte ehrlichem Entsetzen Platz. »Wie kommen Sie denn darauf?«
Читать дальше