»Tja, wenn man den Kopf nicht da hat, wo die Hände sind«, sagte Mutter.
»Sollen wir dich hinfahren?«, fragte Vater.
»Erst zeigt Corinna uns mal die ganze Wohnung, nicht wahr? Jetzt, wo wir schon einmal da sind.«
Ich rang mit mir. Einerseits war die Fahrt mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu dem Abstellplatz in der Nähe des Flughafens extrem umständlich, andererseits war ich mir nicht sicher, ob ich eine Minute länger als unbedingt nötig mit meiner Mutter verbringen wollte. Streit war bei uns einfach vorprogrammiert. Ich war als Nachzügler geboren worden zu einem Zeitpunkt, als meine Mutter ihre Familienplanung eigentlich als abgeschlossen betrachtet hatte. Meine Geburt stellte sie vor das Problem, dass sie mit der Rückkehr in ihren geliebten Beruf nun weitere drei Jahre warten musste. Die einzige Person, die ihr bei der Kinderbetreuung helfen konnte, war die Schwiegermutter mit dem Bauernhof, die so gar nicht zu der gesellschaftlichen Schicht gehörte, zu der meine Mutter sich zugehörig fühlte und in der sie sich beruflich bewegte. Unsere Beziehung war also von Anfang an belastet gewesen und über die Jahre nie wirklich spannungsfrei geworden.
Meine Mutter öffnete gerade die Tür zum Schlafzimmer.
»Ziemlich klein«, sagte sie. »Aber ausreichend für eine alleinstehende Frau…«
Der Ton machte deutlich genug, was sie von alleinstehenden Frauen in meinem Alter hielt.
Mein Vater schaute mich an und zuckte wieder mit den Schultern. Dann warf auch er einen Blick in mein Schlafzimmer. »Gemütlich.«
Ich schenkte ihm ein Lächeln.
»In deinem Alter«, begann Mutter, und ich wusste, was jetzt kam, »war ich schon verheiratet und Mutter. Na, ein paar Jahre hast du ja noch Zeit. Und besser später als zu früh.«
Vater schüttelte resigniert den Kopf.
Dass meine Oma nur sechzehn Jahre älter war als mein Vater, fand meine Mutter skandalös. Als Kind hatte ich schon die gezischten Worte vom sittenlosem, Landleben und von Bauernlümmeln im Heu aufgeschnappt, als ich noch nichts damit anzufangen wusste. Aber ich ahnte, dass Oma etwas falsch gemacht haben sollte. Im Gegensatz zu meiner Mutter redete Oma offen mit mir über diese Dinge, und aus ihrer Sicht klang die Geschichte ganz anders. Meine Mutter wirkte dagegen spießig und voll Neid. Einmal wagte ich sogar die Frage, ob meine Mutter mit Mitte zwanzig wirklich immer noch freiwillig Jungfrau war oder einfach noch keinen Interessenten gefunden hatte. Dafür fing ich mir die einzige Ohrfeige meiner Pubertät.
Nun waren meine Mutter und meine Oma nur siebzehn Jahre auseinander und sahen sich verhältnismäßig ähnlich. Sie waren fast gleich groß, beide stark gebaut, wie man bei uns auf dem Land sagte, und beide trugen ihr Haar immer schon kurz. Omas Kurzhaarfrisur wirkte allerdings sportlich-flott, Mutters hingegen altbacken.
Oma hatte einen guten Geschmack in Sachen Kleidung, den sie jetzt, da sie den Bauernhof nicht mehr hatte, endlich ausleben konnte. Sie trug gern Jeans zu Leinenblusen oder modischen Pullovern, während meine Mutter in grauen Faltenröcken und Twinsets wie eine Erzieherin aus einem Film der Fünfzigerjahre des vorigen Jahrhunderts wirkte.
Die beiden wurden häufig für Schwestern gehalten, was meiner Mutter natürlich missfiel, zumal Oma mit ihrer frischen Gesichtsfarbe und ihrem offenen Wesen oft sogar als die jüngere der beiden durchging. Das Verhältnis der beiden war also durchaus angespannt, und im Zweifelsfall hielt ich immer zu Oma, denn eins war klar: Ich vergötterte meine Oma und meine Oma vergötterte mich.
»Dein Bruder lässt grüßen«, sagte Mutter übergangslos. »Er findet auch, du solltest dir wieder eine richtige Arbeit suchen. Das ist doch sicherer als die Selbstständigkeit.«
Mein Bruder Hans, der geplante und willentlich empfangene Stammhalter, ist Beamter im Kreisforstamt und kennt sich daher in der freien Wirtschaft natürlich hervorragend aus. Eigentlich ist er aber ein netter, wenn auch recht antriebsarmer Kerl. Ordnungsgemäß verheiratet mit einer ebenfalls beamteten Sachbearbeiterin der Kreisverwaltung, ungewollt kinderlos.
»Dort ist das Bad«, ich zeigte auf die Tür, drängte meine Eltern aber schon in Richtung Büro, »und hier arbeite ich.«
Mein Vater schaute sich mit anerkennendem Blick um. Er hatte zuletzt für eine kleine Spezialgeräte-Firma gearbeitet, deren Büros dreißig Jahre nicht renoviert worden waren.
»Hell, modern, alle Achtung«, sagte er.
»Hier zieht es aber gewaltig«, sagte meine Mutter.
»Also, es wäre wirklich toll, wenn ihr mich zu meinem Auto bringen könntet«, sagte ich entschlossen und zog Jacke und Schuhe an. »Ich bin dann so weit.«
Meine Mutter bestand darauf, bei der Autoübergabe dabei zu sein. »Man weiß nie, was auf so einem Gelände alles passieren kann«, sagte sie. »Immerhin ist das ja hier nicht die beste Gegend.«
Sie hat viele Jahre als persönliche Assistentin eines Großgrundbesitzers auf seinem schlossähnlichen Anwesen gearbeitet und fühlt sich daher dem gemeinen Volk deutlich überlegen.
»Das ist nicht nötig, Mama, ich kann mein Auto allein abholen. Danke fürs Herbringen. Tschüss, Papa.«
»Mach’s gut, mein Engel.«
Seit Ewigkeiten hatte mein Vater mich nicht mehr so genannt. Seit ich es ihm verboten hatte, genau gesagt. Damals war ich acht oder neun Jahre alt und Karneval stand vor der Tür. Ich wollte kein Engel, sondern ein Teufel sein. Natürlich durfte ich es nicht, zumindest nicht bei meiner Mutter. So kam ich zu zwei Kostümen: einem Engelskostüm, mit dem meine Mutter mich in die Schule schickte, und einem Teufelskostüm, das meine Oma mir heimlich genäht hatte und das ich auf dem Schulklo anzog.
»Mach ich, Paps.« Wir warfen uns im Rückspiegel einen verschwörerischen Blick zu. Ganz kurz flackerte das Gefühl auf, dass alles gut werden würde.
Ich stieß die Tür auf.
»Ich komme besser mit«, wiederholte Mutter, befahl meinem Vater, den Motor abzustellen und vor dem Gelände auf uns zu warten. Ich stürmte die Stufen hoch in der Hoffnung, meine immer etwas kurzatmige Mutter abzuhängen, aber die Tür war verschlossen und bis ich eingelassen wurde, hatte meine Mutter mich eingeholt.
»Hallo, ich bin Corinna Leyendecker und möchte mein Auto abholen.« Ich legte Kfz-Schein und Personalausweis auf die Theke.
Die Dame hinter der Theke nahm die Dokumente, tippte auf ihrer Computertastatur herum, druckte Belege aus und kassierte eine für meine Begriffe unverschämte Gebühr.
»Ist der Parkplatz wenigstens bewacht?«, fragte meine Mutter.
»Sicher besser als der, wo der Wagen unrechtmäßig geparkt war«, gab die Frau am Schalter zurück.
Offenbar konnte sie den inquisitorischen Ton meiner Mutter genauso wenig ertragen wie ich. Ich grinste.
»Ihre patzige Art wird Ihnen nicht helfen, wenn an dem Wagen auch nur ein winziger Kratzer ist, der vorher nicht dran war.«
»Mama, nun reg dich ab. Es ist sicher alles in Ordnung.« Ich zuckte mit den Schultern und lächelte entschuldigend – vermutlich genauso, wie mein Vater es immer tat.
»Der Wagen steht da drüben. Sie gehen hier herum und fahren durch diese Schranke raus. Ich sehe Sie von hier aus und öffne den Schlagbaum. Sie brauchen nicht drücken und es gibt auch keine Münze oder so was.«
Ich nickte der netten Dame noch mal verschwörerisch zu und ging zu meinem Auto. Meine Mutter folgte mir mit energischem Schritt. Ich meinte, meinen Herzschlag bis in die Wimpern zu spüren. Ich ging einmal um mein Auto herum und sog prüfend die Luft durch die Nase ein. Ich roch nichts. Das musste allerdings nichts heißen, denn wegen der Erkältung hätte ich vermutlich noch nicht einmal einen in Brand geratenen Stapel Altreifen riechen können.
Meine Mutter machte einen Inspektionsgang um mein Auto.
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