Ich seufzte.
»Siehst du, wie schlecht es dir geht!«, kommentierte Lisbeth, die den wahren Grund für mein Seufzen natürlich nicht erraten konnte.
Ich nickte. Lisbeth brachte mich heim, schmierte mir ein Honigbrot, weil ich etwas Vernünftiges essen musste, aber auf Käse keinen Appetit und nichts anderes im Haus hatte, kochte eine große Kanne Erkältungstee, legte mir einen Halswickel um, entfernte ihn wieder, ließ mich ein Kamillendampfbad machen und steckte mich endlich mit Wadenwickeln ins Bett.
Ich lauschte auf die zuklappende Tür, wartete noch fünf Minuten und stand wieder auf. Ich studierte den Stadtplan und die Ausflugskarte mit größtmöglicher Aufmerksamkeit und suchte nach geeigneten Depotmöglichkeiten.
Ich fand keine einzige.
In meiner Verzweiflung überlegte ich sogar irgendwann, einfach zu einer Müllumladestation zu fahren und die Leiche, eingewickelt in einen Teppich, in den nächstbesten Container zu werfen, aber auch das würde nicht funktionieren.
Einer blonden Frau eilen die Beschäftigten an den Containern dort immer zu Hilfe. Normalerweise finde ich diese Vorzugsbehandlung angenehm, jetzt aber machte sie meinen Plan zunichte. Ich musste eine Stelle finden, an der ich meine Fracht loswerden konnte, ohne dass sie innerhalb der nächsten Tage entdeckt werden würde. Desto weniger wäre hoffentlich feststellbar, woher sie ursprünglich kam. Und desto weniger Zeugen würden sich finden, die sich an ein bestimmtes Auto erinnern konnten, das nachts irgendwie verdächtig in der Gegend herumgekurvt war.
Aber alle meine Überlegungen führten zu nichts, außer zu schrecklichen Albträumen, die mich, neben der laufenden Nase, dem langsam zunehmenden Husten und dem Fieber, die halbe Nacht wach hielten.
Auto auslösen, drei Akquisetermine, Leiche beseitigen. Meine Tagesplanung war übersichtlich, den letzten Termin hatte ich vorsichtshalber nicht in meinem Kalender eingetragen. Viele Kriminelle scheitern letztlich an Kleinigkeiten – obwohl ich von Tag zu Tag nervöser wurde, hatte ich die Hoffnung, unbeschadet aus der ganzen Sache herauszukommen, noch nicht ganz aufgegeben. Nach einer schrecklichen, halb durchwachten Nacht war ich gegen sechs Uhr noch mal eingeschlafen, dann aber um halb acht aufgestanden und jetzt angezogen und abmarschbereit. Das Fieber war fast weg.
Ich wusste, dass ich Erkältungstee hätte trinken sollen, aber ich musste auch irgendwie zu mir kommen, also schüttete ich die dritte Tasse Kaffee in mich hinein, als es an der Tür klingelte. Nanu. Wenn überhaupt in den letzten Wochen jemand an der Tür geklingelt hatte, dann war das der Paketbote. Meist traf er mich gar nicht an, sondern gab die Sendung bei meinem netten Nachbarn Herrn Metzenrath ab, der mir damals die Wohnung gezeigt hatte.
Der Paketbote kommt üblicherweise am späten Vormittag. Jetzt war es gerade halb neun.
Ich öffnete die Tür.
»Das riecht ja schon lecker nach Kaffee hier«, rief meine Mutter und drückte die Tür ganz auf. »Du hast doch hoffentlich daran gedacht, dass dein Vater nur koffeinfreien trinkt?«
Ich war viel zu verblüfft, um die Haustür zu verteidigen. Was wollten meine Eltern hier? Waren wir verabredet? Nicht, dass ich wüsste. Ich folgte meinen Eltern hinein.
»Na ja, die Gegend ist ja nicht so schön«, sagte meine Mutter noch im Flur. »Und ein bisschen dunkel, die Wohnung, oder?«
Es war noch früh an einem Wintermorgen mit tief hängender Wolkendecke, daher würde selbst eine Wohnung mit Rundum-Vollverglasung unter diesen Bedingungen ein bisschen dunkel wirken, aber ich sagte nichts.
»Die Wohnung, die du mit diesem Amerikaner hattest, war großzügiger.«
Meine Mutter hatte Greg nie ins Herz geschlossen, aber immerhin hatte sie seine Finanzkraft zu schätzen gewusst. Mein Vater betrat hinter meiner Mutter die Wohnung, küsste mich auf die Wange, drückte mich einmal kurz an sich und zuckte mit den Schultern, als wollte er sich für etwas entschuldigen. Das ist eine Angewohnheit, die mein Vater seit ungefähr zwanzig Jahren hat. Und seit zwanzig Jahren weiß ich nicht, wofür er sich wohl entschuldigen will. Ich habe ihn aber auch nie gefragt. Mein Vater spricht nicht viel. Das übernimmt meine Mutter. So wie jetzt wieder.
»Du hast unsere Nachricht doch bekommen, oder?«
»Nachricht?«, gab ich verwirrt zurück.
»Wir haben gestern auf deinen Anrufbeantworter gesprochen. Ich mag diese Dinger nicht, zu meiner Zeit sprach man am Telefon noch persönlich miteinander, aber du bist ja sonst nicht zu erreichen. Ich verstehe nicht, warum du mir nicht wenigstens die Nummer von deinem Mobiltelefon gibst. Schließlich bin ich deine Mutter.«
Langsam begann ich zu begreifen. Auf dem Anrufbeantworter, den ich gestern Abend abgehört hatte, waren die letzten drei Worte einer Nachricht, die offenbar vor dem Piepton gesprochen worden war. Die Worte lauteten: »Also, bis dann.« Ich hatte geglaubt, die Stimme meiner Mutter zu erkennen, war mir aber nicht sicher gewesen und hatte mir vorgenommen, sie in den nächsten Tagen zurückzurufen. Das hatte sich nun wohl erledigt.
»Deine Nachricht war unverständlich«, sagte ich, während meine Mutter die Küche inspizierte und mein Vater verloren in der Diele herumstand.
»Ach, dass diese Geräte aber auch immer so unzuverlässig sind«, erwiderte Mutter. »Ich weiß schon, warum ich eine Abneigung dagegen habe.«
Ich unterließ es, sie darauf hinzuweisen, dass das Gerät sehr wohl in Ordnung sei. Natürlich hätte Mutter meine geschäftliche Mobilnummer, auf die sie offenbar so großen Wert legte, auf meiner Internetseite finden können, aber ich wusste, dass sie sich die Mühe, dort nachzusehen, nie machen würde.
»Hier sieht es ein bisschen, na ja, zusammengewürfelt aus«, ertönte die Stimme meiner Mutter aus der Küche.
»Es ist zusammengewürfelt, Mama.«
»Aber warum hast du dir nicht eine von diesen schicken Küchenzeilen gekauft? Es gibt doch so schöne Angebote.«
»Ich brauchte mein Kapital für die Unternehmensgründung.«
»Ein paar Schrubber und Putzmittel werden ja wohl nicht die Welt gekostet haben.«
Ich nahm ein weiteres Aspirin aus der Schachtel und schluckte es mit etwas Wasser herunter.
»Du hättest uns ja nun schon lange mal einladen können, von dir aus, meine ich, immerhin wohnst du schon ein paar Wochen hier.«
Meine Eltern hätten mir ja auch Hilfe beim Umzug anbieten können, aber das sagte ich besser nicht.
»Wir wollen nicht stören, Kind, sag ruhig, wenn du keine Zeit hast«, sagte mein Vater, der immer noch in der Diele stand. Irgendwie wirkte er fehl am Platz. Wie meistens – außer in seinem Lesesessel, mit dessen Lederbezug er inzwischen vermutlich schon einige DNS-Bausteine ausgetauscht hatte.
»Also, es ist wirklich so, dass ich dringend weg muss…«, begann ich.
»Putzen?«, fragte Mutter mit schrillem Unterton.
Als ich ihr von meiner Selbstständigkeit am Telefon erzählt hatte, war sie entsetzt gewesen, dass ich nun putzen ging, und hatte seitdem nie wieder mit mir und vermutlich auch mit keinem anderen Menschen darüber gesprochen.
»Nein, ich muss mein Auto abholen.«
»Oh«, sagte mein Vater mit erwachendem Interesse. »Ist es in der Werkstatt?« Technik ist das einzige Thema, auf das er anspricht, denn davon versteht er etwas. Er ist Ingenieur und tüftelt gern.
»Das hab ich dir doch gleich gesagt, als du dir einen alten Gebrauchtwagen gekauft hast«, sagte Mutter. Sie hat meinen Wagen, der drei Jahre alt und tipptopp in Ordnung ist, noch nie gesehen.
»Er ist abgeschleppt worden, weil ich das Halteverbotsschild auf der nassen Fahrbahn nicht erkennen konnte«, sagte ich zu meinem Vater. Ich wusste, er würde Verständnis für meine Nachlässigkeit aufbringen.
Er lächelte.
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