Dann tappte Ezra Twigg Verwünschungen murmelnd davon. Hawkwood stieg, von Jago gefolgt, die Treppe hoch zum Amtszimmer des Richters.
James Read saß noch an seinem Schreibtisch und zeigte sich über den unerwarteten Besuch zu so später Stunde keineswegs überrascht. Er stand auf und kam seinen Besuchern entgegen.
»Guten Morgen, Hawkwood«, sagte der Oberste Richter und musterte die beiden, ehe er hinzufügte: »Und Sie sind der berühmt-berüchtigte Sergeant Jago, nehme ich an?«
Jago wart Hawkwood einen erschrockenen Blick zu.
»Na, na, Sergeant«, beruhigte ihn James Read. »Keine Angst. Ich habe schon viel von Ihnen gehört. Ihr Ruf eilt Ihnen voraus.« Dann musterte der Oberste Richter Hawkwood von Kopf bis Fuß. »Darf ich fragen, warum Sie aussehen, als seien Sie unter die Hufe eines Schwadrons Dragonerpferde geraten?«
»Ich hatte eine Auseinandersetzung mit einem der Straßenräuber.«
»Ach, tatsächlich?«, freute sich James Read. »Dann haben Sie ihn also gefasst? Fantastisch.«
»Ja, schon …« Hawkwood stockte. »Aber er ist tot. Nathaniel musste ihn töten.«
Der Richter machte ein langes Gesicht. »Das ist sehr bedauerlich.« Er sah Jago an und fügte hinzu: »Ich nehme an, das war nicht zu vermeiden, oder?«
»Er hätte mich umgebracht, wenn Jago nicht dazwischengegangen wäre«, warf Hawkwood ein. »Er hat mir das Leben gerettet.«
»In dem Fall, Sergeant, sind wir Ihnen zu großem Dank verpflichtet.« Read ging zu seinem Schreibtisch zurück. »Also, wer war dieser Mörder?«
»Er hieß Scully und hat früher bei der Marine gedient. Das erklärt auch, warum er ein schlechter Reiter war. Scully hat Ramillies, unseren Agenten, erschossen. Er und sein Komplize haben im Auftrag William Lees gearbeitet.« Hawkwood legte eine bedeutungsvolle Pause ein, ehe er hinzufügte: »Mit diesem Schuft habe ich ebenfalls gesprochen.«
Es war beinahe grotesk: Der Oberste Richter blieb plötzlich wie erstarrt stehen. »Sie sind Lee begegnet? Er ist in England?«
Dann stutzte Read plötzlich, er sah zuerst Jago an, dann warf er Hawkwood einen warnenden Blick zu.
»Sergeant Jago ist über alles informiert, Sir. Ich habe ihm die ganze Geschichte erzählt.«
Der Oberste Richter sagte irritiert: »Ach, tatsächlich? Das war ziemlich vermessen von Ihnen.«
»Nathaniel hat mir das Leben gerettet.«
»Ja, das sagten Sie bereits«, entgegnete James Read ungehalten.
»Ich dachte, er müsse wissen, wo er da hineingeraten ist.«
»Ganz recht«, stimmte der Richter widerwillig zu und schwieg dann eine Weile, ehe er weitersprach. »Ihnen dürfte nicht entgangen sein, ähm … Sergeant, dass ich über Ihre … wie soll ich mich ausdrücken … gegenwärtigen Aktivitäten bestens informiert bin. Ich weiß über Ihre Vorgeschichte und Ihre freundschaftliche Beziehung zu Officer Hawkwood Bescheid. Aus diesem Grund und wegen Ihrer lobenswerten Tat heute Nacht bleibt mir wohl nichts anderes übrig, als zu akzeptieren, dass Officer Hawkwood Sie ins Vertrauen gezogen hat. Da es sich dabei um Informationen handelt, die strengster Geheimhaltung unterliegen, bitte ich um Ihr Ehrenwort, dass nichts von dem, was hier gesprochen wird, nach draußen dringt.«
Jago blickte zuerst zu Hawkwood, dann zu dem Richter und nahm Haltung an. »Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort, Sir«, verkündete er feierlich.
Read nahm das Versprechen mit einem knappen Nicken zur Kenntnis. »Sehr gut«, sagte er und setzte sich wieder hinter seinen Schreibtisch. »So, und nun erzählen Sie mir von William Lee. Sind Sie sich seiner Identität absolut sicher?«
»Ja«, bestätigte Hawkwood. »Und ich bin ihm bereits einmal begegnet, obwohl ich damals nicht wusste, wer er war. Er gab sich als Gast von Lord Mandrake aus, um sich ein Bild von mir machen zu können, dieser aufgeblasene Bastard. Es war nicht Jago, der mich zu diesem Treffpunkt bestellt hat, sondern Scully hat mir im Auftrag von Lee durch Jenny die Nachricht zukommen lassen. Lee sagte, ich stelle eine Gefahr dar, und sie dürften nun kein Risiko mehr eingehen.« Hawkwood zögerte kurz, ehe er hinzufügte: »Scully hat auch Warlock ermordet.«
Ein Schatten glitt über das Gesicht des Obersten Richters. Schweigend folgte er dem minutiösen Bericht Hawkwoods. Dann stieß James Read einen Seufzer aus. »Mir scheint, wir stehen wirklich tief in Ihrer Schuld, Sergeant. Außerdem haben Sie uns die Kosten für eine Hinrichtung durch Hängen erspart.« Dann wandte er sich an Hawkwood: »Und Sie kennen noch immer nicht die Identität seines Komplizen?«
»Noch nicht, aber die finde ich noch heraus.«
James Read nickte. »Hoffentlich so bald wie möglich. Und was Lee betrifft, könnte es sein, dass er in den Flammen umgekommen ist?«
Hawkwood schüttelte den Kopf. »Das bezweifle ich.«
»Schade. Das hätte uns eine Menge Ärger erspart.« Jetzt wandte sich James Read an seinen Sekretär, der sich inzwischen schnell angezogen hatte und ins Büro des Richters gekommen war. »Mr.Twigg, sobald wir hier fertig sind, holen Sie bitte Officer Lightfoot. Die Bank von England hat ihn mittlerweile von seinem Auftrag entbunden. Er soll sofort nach Norden zum Landsitz von Lord Mandrake aufbrechen und Seine Lordschaft – wenn nötig, selbst unter Anwendung von Gewalt – festnehmen und hierher ins Amt bringen.«
»Sehr wohl, Sir«, sagte Ezra Twigg mit ausdrucksloser Miene. Im Laufe seiner langen Dienstzeit als Sekretär vieler Oberster Richter hatte er sich an solche Überraschungen gewöhnt. So zählte die Festnahme eines Peers für ihn ebenso zum Alltag wie die eines Taschendiebs oder der Schutz eines Goldtransports der Bank von England.
»Und was ist aus dem Uhrmacher geworden?«, fragte Read. »Lebt Master Woodburn noch, oder wurde auch er umgebracht?«
»Er lebt. Anscheinend wird er noch gebraucht. Aber Lee hat nicht verraten, wozu. Ich vermute, er soll irgendetwas an diesem Unterseeboot reparieren. Dabei muss es sich um ein sehr kompliziertes Gerät handeln, wofür die Fähigkeiten eines Uhrmachermeisters nötig sind.«
»Also bleibt uns immerhin die Hoffnung, wenigstens Woodburn retten zu können«, sagte James Read nachdenklich. »Immerhin etwas.«
Hawkwood zögerte: »Da gibt es noch etwas, das mich beunruhigt.«
James Read nickte. »Sie fragen sich, wie William Lee an all diese Informationen gekommen ist. Ich muss gestehen, dass auch mir diese Frage große Sorge bereitet.«
»Er muss Freunde an höchster Stelle haben.«
»Und worauf gründet sich Ihre Annahme?«
»Das ist keine Annahme, sondern eine Tatsache. Lee hat es mir bestätigt, als ich ihn fragte, woher er wisse, dass ich Captain gewesen sei.«
»Das hat er bestimmt von Lord Mandrake oder von diesem Scully erfahren«, sagte James Read.
»Vielleicht«, wandte Hawkwood ein. »Aber da bin ich mir nicht so sicher. Es war die Art, wie er das gesagt hat: ›Es gibt da gewisse höher gestellte Freunde.‹ Er hat mit seinen Beziehungen geprahlt und damit bestimmt weder Lord Mandrake noch diesen Scully gemeint. Wie hat Mandrake erfahren, dass wir ihn überprüfen wollten? Zu diesem Zeitpunkt hatten wir noch nicht einmal vermutet, dass er ein Landesverräter ist, aber Mandrake wusste, dass wir gegen ihn ermitteln. Daher seine überstürzte Abreise. Auf welche Weise hat er davon Wind bekommen?«
»Und da ist noch etwas …« Hawkwood schwieg kurz. »Als ich Lee sagte, dass wir wissen, was sie mit der Thetis vorhaben, schien ihn das zu amüsieren. Er antwortete mir, wir glaubten nur, es zu wissen. Woher weiß er, was wir vermuten? Vielleicht hat ihm das jemand gesagt.«
James Read schloss die Augen und massierte sich den Nasenrücken. Plötzlich wirkte er erschöpft. Dann machte er die Augen wieder auf und sprach leise und zögerlich: »Ist Ihnen klar, was Sie da andeuten?«
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