»Ich an Lees Stelle«, sagte Hawkwood, »würde auch nicht von flussabwärts aus angreifen, weil es sinnvoller wäre, mit dem Strom zu schwimmen. Und nach der Zerstörung des Schiffs würde ich so schnell wie möglich das Weite suchen.«
Nachdenklich betrachtete der Oberste Richter das Mosaik auf dem Boden. »Da stimme ich Ihnen zu. Aber welcher Flussabschnitt bleibt uns dann? Vielleicht die Strecke zwischen Bermondsey und der Isle of Dogs? Das sind knapp fünf Kilometer. Wo könnte man da ein Unterseeboot verstecken?«
Hawkwood versuchte sich daran zu erinnern, was Colonel Congreve über die Fortbewegungsgeschwindigkeit eines Unterseeboots gesagt hatte. Wahrscheinlich würde Lee weder zu viel Energie noch Zeit vergeuden wollen, um das Boot in Stellung zu bringen. Und fünf Kilometer waren eine weite Strecke. Aber der Colonel hatte auch erwähnt, nicht die Geschwindigkeit, sondern die Unsichtbarkeit sei relevant.
Den Blick noch immer auf die Stadtpläne geheftet, überlegte Hawkwood laut: »An dem Boot musste etwas repariert werden. Deshalb haben sie den Uhrmacher entführt. Im Freien kann diese Reparatur nicht durchgeführt werden, das würde zu viel Aufmerksamkeit erregen. Also müssen wir nach einer Art Unterstand suchen, einem Bootshaus vielleicht oder einem Lagerhaus direkt an der Themse. Lee arbeitet nicht allein, das wissen wir. Er hat Kontakte. Welcher dieser Männer hat am ehesten Zugang zu einem Lagerhaus? Jemand, der Frachten transportiert? Ein Großhändler? Ein Kaufmann?«
Hawkwood sah den Obersten Richter eindringlich an.
James Read schlug mit der Hand auf den Schreibtisch.
»Natürlich! Wir hatten es die ganze Zeit vor Augen!«
»Was?«, fragte Jago.
Der Oberste Richter packte seinen Sekretär am Arm. »Holen Sie mir die Mandrake-Akte, Mr.Twigg. Darin ist vermerkt, welche Liegenschaften Seine Lordschaft direkt an der Themse besitzt oder gemietet hat.«
»Sehr wohl, Sir.«
Jago fing Hawkwoods Blick auf und grinste: »Jetzt verstehe ich, warum Sie zum Offizier befördert wurden.«
Ezra Twigg eilte wieder aus dem Amtszimmer. Keine zwei Minuten später kam er mit einem verschnürten Bündel Dokumente zurück. Sogar Hawkwood, der das phänomenale Gedächtnis des kleinen Mannes kannte, war beeindruckt. Der Oberste Richter hingegen betrachtete die Effizienz seines Sekretärs als Selbstverständlichkeit.
»Sehr gut, Mr.Twigg«, sagte er nur. »Lesen Sie mir bitte das Verzeichnis der Liegenschaften vor.«
Während der Sekretär die Namen herunterleierte, schwand Hawkwoods Hoffnung. Alle von Lord Mandrakes Handelsfirmen genutzten Lagerhäuser lagen im neuen Hafenviertel.
London war der größte Hafen der Welt. Frachtschiffe konnten jedoch wegen ihrer Größe nur bis zur London Bridge segeln, sodass das Entladen auf die Nord- und Südufer unterhalb der Brücke beschränkt war. Daher breiteten sich die Lagerhäuser mit zunehmendem Handelsvolumen flussabwärts aus. Je größer die Schiffe wurden, umso stärker wurde der Andrang im Hafengebiet, und es herrschten teilweise chaotische Verhältnisse. Schiffe mussten manchmal wochenlang warten, bis ihre Fracht überprüft worden war und die entsprechenden Zollgebühren bezahlt werden konnten. Hinzu kam das Problem mit der Flusspiraterie und Schiffsplünderung.
Private Handelshäuser begannen, erste Handelsdocks zu bauen, um Wartezeiten zu verkürzen und ihre wertvollen Frachten zu schützen.
Bei Flut konnten die Schiffe jetzt flussaufwärts segeln und in den Hafenbecken ankern. Dort wurde die Fracht entweder in Lagerhäuser oder von kleineren, wendigeren Booten direkt zu anderen Liegeplätzen gebracht.
Mandrakes Lagerhäuser lagen verstreut zwischen dem London Dock in Wapping, den West India Docks, nördlich der Isle of Dogs und den Grand Surrey Docks in Rotherhithe.
»Sieht aus, als hätten wir uns geirrt«, sagte Hawkwood enttäuscht. »Lee würde auf keinen Fall das Risiko eingehen, sein Unterseeboot in einem dieser Docks zu verstecken. Da herrscht zu viel Verkehr.«
James Read nickte bedrückt. »Ich fürchte, Sie haben Recht. Nicht einmal unser Mr. Lee wäre derart dreist. Obwohl wir die Gebäude trotzdem durchsuchen lassen sollten. Ich veranlasse die Flusspolizei, diskret Nachforschungen anzustellen.«
Noch immer ziemlich niedergeschlagen, sagte der Richter zu seinem Sekretär: »Danke, Mr.Twigg. Ihre Akten waren wie immer äußerst aufschlussreich. Aber mir scheint, wir müssen woanders nach Hinweisen suchen.«
Es irritierte ihn, als Ezra Twigg nicht reagierte, sondern fasziniert auf ein Dokument starrte. Sobald der Sekretär merkte, dass er beobachtet wurde, blickte er auf und sagte: »Verzeihen Sie, Sir.«
»Mr. Twigg, was ist mit Ihnen?«, fragte James Read besorgt.
Der kleine Mann blinzelte wie eine Eule. »Ähm … ich glaube, ich habe etwas entdeckt, Sir.«
»Und was könnte das sein, Mr. Twigg?«
Der Sekretär schwenkte triumphierend das Dokument in der Luft. »Da ist noch ein Lagerhaus, Sir.«
Der Oberste Richter packte Twigg derart hart am Arm, dass sein Sekretär zusammenzuckte.
»Es ist allein meine Schuld, Sir. Als ich eben noch einmal das Verzeichnis der Liegenschaften Seiner Lordschaft durchging, ist mir aufgefallen, dass der Holzplatz nicht aufgeführt ist.«
»Welcher Holzplatz?«
»Nun, Sir, als Lord Mandrake seine Geschäfte in die neuen Docks verlagerte, hat er andere Liegenschaften verkauft. Dazu gehörten …« Twigg las vom Dokument ab: »… Lagerhäuser am Griffin’s Kai, an der Battle Bridge, am Brewers Quay und am New Bear Quay. Und noch zwei Lagerhäuser am Phoenis Kai, in Wapping und an der Trinity Street in Rotherhithe. Alle verkauft, Sir, alles aufgeführt, bis auf eins. Seine Lordschaft hat auch Holz aus dem Osten importiert. Seine Gesellschaft hatte dafür ein separates Lagerhaus mit dazugehörigem Holzplatz. Ich kann keinen Eintrag für den Verkauf dieser Liegenschaft finden.«
»Und wo liegt dieses Lagerhaus, Mr.Twigg?«
Pause.
»In Limehouse, Sir.«
Einen Kilometer flussaufwärts von Deptford.
Der Oberste Richter las Hawkwoods Gedanken. »Nehmen Sie Sergeant Jago mit!«, befahl er.
»Wollen Sie nicht den Kapitän der Thetis warnen?«, erkundigte sich Hawkwood.
James Read dachte kurz nach. »Das könnte problematisch werden. Sollte Lee tatsächlich Freunde in höher gestellten Positionen haben, wäre Lee gewarnt, dass wir ihm auf die Schliche gekommen sind. Und wir wollen auch keine unnötige Panik auslösen. Außerdem glaubt Lee, Sie seien tot. Das könnte für uns von Vorteil sein. Nein, Gentlemen, solange wir nicht wissen, wer Freund oder Feind ist, sind wir auf uns allein gestellt. Das heißt, Hawkwood, Sie müssen Lee und sein Unterseeboot finden und ihn daran hindern, seinen teuflischen Plan auszuführen. Unter allen Umständen. Es gibt kein Pardon. Haben Sie mich verstanden, Hawkwood? Sie haben völlig freie Hand!«
»Na, denn mal los«, sagte Hawkwood. »Komm, Nathaniel. Es gibt Arbeit.« Er drehte sich noch einmal zu dem Obersten Richter um und fragte: »Wo können wir Sie kontaktieren?«
James Read überlegte kurz. »Ich fahre nach Deptford. Dort können Sie mich erreichen.«
»Werden Sie den Prinzregenten warnen?«
»Ich werde mit seinen Beratern sprechen und ihnen vorschlagen, Seine Königliche Hoheit möge seinen Besuch auf der Thetis bis zum nächsten Auslaufen verschieben. Und jetzt machen Sie sich auf den Weg.«
Nachdem Hawkwood und Jago das Amtszimmer verlassen hatten, sahen sich der Oberste Richter und sein Sekretär nachdenklich an.
»Ich fürchte, Mr. Twigg«, flüsterte James Read, »uns stehen schwere Zeiten bevor.«
Twigg nickte nur. Seine Augen hinter den dicken Brillengläsern funkelten. Die Jagd war eröffnet, da roch der kleine Mann Blut.
»Und das bedeutet«, fuhr James Read fort, »wir müssen alle uns zur Verfügung stehenden Mittel einsetzen. Gehen Sie noch einmal in Ihr Archiv, und bringen Sie mir alle Unterlagen, die wir über Sir Charles Yorke, Admiral Bartholomew Dalryde, Generalinspekteur Thomas Blomefield und Colonel Congreve haben. Hier ist Verrat im Spiel, Mr. Twigg. Und Verrat ist eine Seuche, die ich auszurotten gedenke!«
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