»Die Abneigung scheint auf Gegenseitigkeit zu beruhen«, stellte Lee lakonisch fest.
Genussvoll inhalierte der Amerikaner den Rauch seiner Zigarre. »In Le Havre wurde mir Scully von einem Matrosen empfohlen, der mit ihm an Bord desselben Schiffes war. Er hat mir erzählt, dass Scully die Themse wie seine Westentasche kenne und dass er von der Obrigkeit nicht viel hält. König Georg II. kann er auch nicht ausstehen. Da bin ich zu dem Schluss gekommen, dass das der richtige Mann für mich ist.«
Als Scully selbstgefällig grinste, musste Hawkwood an einen Hund denken, der seinen Namen hört und daraufhin mit dem Schwanz wedelt.
»Ich finde das zum Lachen«, sagte Scully. »Monatelang kommt mir kein Officer in die Quere und jetzt schnappe ich mir gleich drei auf einmal. Was bin ich doch für ein Glückspilz.«
Es dauerte einen Moment, bis Hawkwood die Bedeutung dieser Worte verstand.
»Du hast Warlock umgebracht«, sagte er dumpf.
»Wer ist Warlock?«, fragte Scully dümmlich. »Ach, du meinst deinen Kumpel, den Runner. Mag sein – wenn du meinst. Und ich hab’s genossen.«
Nur die Fesseln hinderten Hawkwood daran, Scully an die Gurgel zu springen. Er starrte Lee an und fragte: »Haben Sie ihn damit beauftragt?«
Lee zog ein letztes Mal an seinem Stumpen und blies den Rauch in die Luft. Dann schüttelte er den Kopf. »Nein, mit dem Tod Ihres Kollegen habe ich nichts zu tun. Seine Lordschaft hat leider überreagiert. Nachdem Ihr Freund da einfach so reinplatzte, musste er doch etwas unternehmen.«
Warlock hatte also wie ein guter Bluthund die Spur zu Lord Mandrakes Haus verfolgt und irgendwie die Verbindung zwischen dem Verschwinden des Uhrmachermeisters und Lees Plänen für den Bau eines Unterseebootes entdeckt. Nachdem er die Zeichnungen in seinem Stock versteckt hatte, war er entdeckt und umgebracht worden. Von Scully.
»Und der alte Mann? Ist der auch tot?«
»Der Uhrmacher?« Lee schüttelte wieder den Kopf. »Nein. Lebendig nützt er uns mehr als tot.«
Aber Scully hat doch von drei Officers gesprochen, überlegte Hawkwood. Was hat er damit gemeint?
Und plötzlich fiel es ihm wie Schuppen von den Augen.
» Du warst es«, sagte er zu Scully. »Du hast die Postkutsche überfallen.«
Als Exmatrose kannte Scully natürlich die Uniform eines Leutnants.
»Du hast den Kurier erschossen und ihm die Hand abgehackt.«
Scully grinste selbstgefällig. Das genügte Hawkwood als Antwort.
William Lee verzog das Gesicht. »Ja, leider ist es zu dieser exzessiven Gewaltanwendung gekommen. Wir konnten doch nicht zulassen, dass die Konstruktionspläne den Jungs von der Admiralität in die Hände fallen. Oh, ich weiß, das Marineministerium ist im Besitz von Fultons früheren Plänen, aber die sind seitdem wesentlich verbessert worden. Wir wollen es euch doch nicht zu leicht machen. Alle Achtung vor eurem Spion. Er hat sich mit Napoleons Männern eine regelrechte Hetzjagd geliefert. Wir hatten es nur einem glücklichen Zufall zu verdanken, dass wir ihm auf die Spur gekommen sind. Der Schmuggler, den euer Mann in St.Valéry bestochen hat, um ihn mit nach England zu bringen, ist auch ein alter Freund von Scully. Er ist Gold wert, nicht wahr?«
»Und wer war dein Partner bei diesem Überfall, Scully?«, fragte Hawkwood. »Wer hat den Wachmann auf der Kutsche erschossen? Gehörte er auch zu den Meuterern, wie du damals?« Dann sah Hawkwood William Lee an. »Oder waren Sie es?«
»Weder noch, Euer Ehren«, sagte Scully höhnisch und lachte gemein. »Du würdest es mir nicht glauben, wenn ich es verriete. Wenn du wüsstest …«
Jago? Um Gottes willen, doch nicht Nathaniel?
Hawkwood verwarf diesen schrecklichen Verdacht sofort wieder, denn Scullys Komplize konnte weder Lee noch Jago gewesen sein, weil die Reisenden den zweiten Räuber als sehr jung beschrieben hatten. Der Meister und sein Lehrling.
»Jetzt reicht’s!«, warnte Lee.
Hawkwood spürte, wie Scully den Griff auf seiner Schulter schmerzhaft verstärkte. Er hatte einen metallischen Geschmack im Mund. Blut, dachte er. Scullys Schlag hat mir die Lippen aufgerissen.
Da schnalzte Lee mit der Zunge. »Sehen Sie, Captain, da liegt der Hase im Pfeffer. Ich habe keine Lust mehr, Ihre Fragen zu beantworten. Und das heißt, Sie werden sterben, ohne die Wahrheit zu erfahren.« Der Amerikaner zuckte bedauernd mit den Schultern. »Es tut mir Leid, Captain, aber mir bleibt keine andere Wahl. Sie sind zu einem Ärgernis geworden, und wir müssen jedes Risiko ausschließen.«
Wir?
»Aber, aber«, fügte Lee beruhigend hinzu. »Warum sind Sie denn so bedrückt? Immerhin haben Sie gute Arbeit geleistet und sind mit Ihren Ermittlungen sehr weit gekommen.«
Weit?, dachte Hawkwood. Nichts habe ich erreicht. Ich bin einer schon fast kalten Spur gefolgt und diesen Leuten in die Falle gegangen – eine tödliche Falle.
Lee erhob sich vom Schreibtisch. »Jetzt bist du dran, Scully. Ich überlass ihn dir.«
»Wir wissen, was ihr mit der Thetis vorhabt«, sagte Hawkwood schnell. Er war verzweifelt.
Lee schüttelte lächelnd den Kopf. »Nein, das wisst ihr nicht. Ihr glaubt nur, es zu wissen.«
»Und ich werde meinen Spaß mit dir haben!«, zischte Scully. »Das schwöre ich dir.« Er griff an seinen Gürtel, und als Hawkwood erkannte, dass er keinen Dolch, sondern ein längliches metallenes Werkzeug herauszog, drehte sich ihm der Magen um. Scullys Spezialwaffe, die Ahle.
»Und sieh zu, dass du die Leiche dieses Mal verschwinden lässt«, ermahnte ihn Lee, die Hand schon auf dem Türknauf.
»Wir wollen nicht, dass der Tote entdeckt wird wie der andere. Das war schlampige Arbeit.«
»Keine Sorge«, sagte Scully und lachte glucksend. »Ich habe mir schon das richtige Grab für ihn ausgesucht.«
»Was auch immer Sie planen, Lee«, machte Hawkwood einen letzten Versuch, »Sie werden nicht damit durchkommen.«
Der Amerikaner lächelte nur.
»Der Teufel wird Ihre Seele holen, Lee!«, rief Hawkwood. »Dafür werden Sie in der Hölle schmoren.«
Der Amerikaner sagte überrascht: »Der Teufel, Captain? Sollten Sie etwa Marlowe gelesen haben? Kenntnisse der klassischen Literatur sind für einen simplen Gesetzeshüter eher ungewöhnlich. Sie versetzen mich immer wieder in Erstaunen, wirklich. Schade, dass ich nicht früher Ihre Bekanntschaft gemacht habe. Jetzt ist es leider zu spät.« Mit einem entwaffnenden Lächeln fügte er dann hinzu: »Wie sagte doch gleich der gute Dr. Faustus: › Mein Herz ist so verhärtet. Reue kann ich nicht empfinden. ‹«
»Die Exekutive wird zu Land und zu Wasser Jagd auf Sie machen«, sagte Hawkwood. »Sie entkommen uns nicht und werden am Galgen enden.«
»Versuchen können sie es ja«, sagte Lee. »Aber dann wird es zu spät sein.« Er öffnete die Kajütentür. »Ihr Diener, Captain. Ach, übrigens, wussten Sie, dass Christopher Marlowe in Deptford gestorben ist. Seltsam, nicht wahr? Wegen unbezahlter Zeche kam der große Dichter bei einer Messerstecherei ums Leben, wenn ich nicht irre. Was diesem Ort keine größere Bedeutung verliehen hat. Aber wer weiß. Manchmal geht die Geschichte sonderbare Wege, nicht wahr?« Er steckte sich den Stumpen wieder zwischen die Lippen und verbeugte sich knapp. Dann schloss er die Tür hinter sich.
»Jetzt sind nur noch wir beide übrig, Euer Ehren«, unterbrach Scully Hawkwoods wirre Überlegungen und klopfte mit der Ahle auf seine Handfläche. Seine Augen waren schwarz und ausdruckslos wie Kohle.
Dr. McGregor hat gesagt, Warlocks Kopf sei durchbohrt worden, musste Hawkwood unwillkürlich denken. Wahrscheinlich von einem Meißel. Er starrte die spitze Ahle in Scullys Pranke an. Die Tatwaffe! Warum bin ich nur nicht früher darauf gekommen?
»Dafür wirst du hängen, Scully. Und ein Festmahl für die Krähen sein.«
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