Hawkwood fielen die ausgemergelten Körper und ausdruckslosen Augen der apathisch daliegenden Opiumraucher auf. Ein Süchtiger steckte gerade ein Kügelchen Opium auf eine Nadelspitze, hielt sie vorsichtig über die Kerzenflamme und steckte dann die klebrige Masse in ein Loch in dem eiförmigen Pfeifenkopf. Dann zog der Raucher behutsam an der Pfeife und verursachte dabei ein leise gurgelndes Geräusch. Hawkwood war völlig verblüfft von dem Gesichtsausdruck des Mannes. Er sah nicht etwa Hoffnungslosigkeit, sondern eine Heiterkeit, die in dieser stinkenden Umgebung völlig fehl am Platz wirkte.
»Kümmere dich nicht um die«, lachte der Zwerg. Sein Lachen klang wie das Gurgeln der Opiumpfeifen.
Ein paar Schritte weiter blieb der kleine Mann vor einer schweren Holztür stehen. »Da sind wir. Das ist die Kajüte des Kapitäns«, sagte Wiesel augenzwinkernd. »Mal sehen, ob er zu Hause ist.«
Wiesel öffnete die Tür, und Hawkwood folgte ihm in die Kajüte.
Sie war niedrig und hatte große Bullaugen im Heck. Vom Deckbalken hing eine Laterne, die die spärlichen Möbel beleuchtete: einen Tisch, ein paar Stühle und eine ziemlich lädierte Kommode. In der Koje lagen ein paar schmuddelige Decken auf der fleckigen Matratze.
»Wird aber auch Zeit, verdammt noch mal! Wir hatten dich schon aufgegeben!«, zischte jemand hinter Hawkwoods Rücken. Aus dem Halbschatten neben einem der Bullaugen trat eine Gestalt: fein geschnittene, gut erkennbare Gesichtszüge, kurzes graues Haar.
Hawkwood drehte sich intuitiv um und griff gleichzeitig nach dem Schlagstock unter seiner Jacke. Aber seine Reaktion kam zu spät, denn schon spürte er kalten Stahl an seiner Kehle und sah das breite Grinsen auf dem Gesicht des Gnomen.
»Rühr dich nicht, Kumpel, sonst schlitz ich dir die Kehle auf! Der Abschaum da draußen wird mit Vergnügen deine Innereien mit dem Löffel rauskratzen.«
Als Hawkwood trotz der Warnung den Kopf leicht zur Seite neigte, erkannte er Scully – den stiernackigen, glatzköpfigen Schläger, der sich mit Jago in der Kneipe angelegt hatte. Scully grinste triumphierend.
Und Hawkwood schoss ein Gedanke durch den Kopf, genauso schmerzhaft wie ein Messerstich.
Warum hat mich ausgerechnet mein ehemaliger Waffengefährte Nathaniel Jago verraten?
Es tut mir Leid, dass ich Gewalt anwenden und Sie knebeln ließ, Officer Hawkwood«, sagte der Grauhaarige, freundlich lächelnd. »Das ist natürlich eine barbarische Maßnahme, aber manchmal unumgänglich.«
Scully hatte Hawkwood den Schlagstock abgenommen. Wiesel hatte ihn an Händen und Füßen gefesselt und die Kette um die Stuhllehne geschlungen. Danach hatte der Zwerg eine Verbeugung angedeutet und war gegangen.
»Mir wurde mitgeteilt, Ihr hättet Lord Mandrake auf seiner Reise in den Norden begleitet«, sagte Hawkwood und versuchte unauffällig, seine Handgelenke in den Fesseln zu bewegen. Aber die Kette saß zu straff.
»Da hat man Ihnen etwas Falsches mitgeteilt.«
»Mir wurde auch anvertraut, Ihr wärt des Englischen kaum mächtig«, sagte Hawkwood.
»Auch falsch.«
»Und ich nehme an, Ihr werdet mir gleich verkünden, dass Ihr auch nicht Rochefort heißt.«
»Für wen halten Sie mich denn?«
»Ich kann nur raten«, entgegnete Hawkwood. »Ich glaube, Sie sind William Lee.«
»Na, so was! Was sind Sie doch für ein kluger Mann. Und wie sind Sie darauf gekommen?«
»In Talavera diente ein amerikanischer Offizier unter Sherbrooke. Er sprach mit demselben Akzent.«
»Ach, tatsächlich? Das ist interessant. Und wie kam es, dass ein Amerikaner für den englischen König gekämpft hat?«
»Der Grund ist mir entfallen«, sagte Hawkwood. »Und wie kommt es, dass Sie für Napoleon kämpfen?«
Und warum steht Jago auf der Seite des Feindes?
»Dafür habe ich meine Gründe.« William Lee verschränkte die Arme vor der Brust.
»Geld!« Aus Hawkwoods Mund klang das Wort wie eine Obszönität.
Lees Gesicht wurde ausdruckslos. »Glauben Sie wirklich, dass es mir nur ums Geld geht?«, fragte er. »Oh, natürlich werde ich gut bezahlt, mein Freund. Das streite ich nicht ab. Aber Geld war nie ausschlaggebend für meine Entscheidungen.«
Hawkwood wartete auf eine Fortsetzung des Amerikaners, doch Lee schien in Gedanken versunken zu sein.
»Und welchen Preis hat Lord Mandrake verlangt?«, fragte Hawkwood schließlich.
Und Jago?
»Nun, damit kommen wir der Sache schon näher. Wir haben Seiner Lordschaft ein Angebot unterbreitet. Wir haben ihm zu verstehen gegeben, sollte er uns seine Mithilfe verweigern, könnte die Regierung der Vereinigten Staaten nicht für die Sicherheit seiner Überseeinvestitionen garantieren. Ihnen dürfte wohl bekannt sein, dass Lord Mandrake in beträchtlichem Maße vom Tabakhandel profitiert.«
Wie um dieser Erklärung Nachdruck zu verleihen, fischte Lee aus seiner Tasche einen halb gerauchten Stumpen, öffnete die Laterne und zündete die Zigarre an der Flamme an. Nach einem tiefen, genießerischen Zug hielt er für ein paar Sekunden die Luft an und stieß dann den Rauch aus.
»Immerhin ist Lord Mandrake nicht nur ein sehr erfolgreicher Geschäftsmann, sondern auch ein überaus pragmatischer Mensch«, sagte William Lee und inspizierte lächelnd die Spitze seiner Zigarre.
»Mit anderen Worten: Der Lord ist ein verdammter Landesverräter.«
»Das hängt doch wohl davon ab, auf welcher Seite man steht, nicht wahr?«, sagte Lee spöttisch und zog wieder an seiner Zigarre.
»Soll ich den Bastard gleich fertig machen, oder nicht?«
Erst als Hawkwood Scullys Stimme vernahm und dessen Hand auf seiner Schulter spürte, wurde er sich der Anwesenheit des Schlägers wieder bewusst.
Lee schnippte die Asche von seiner Zigarre. »Nur mit der Ruhe, Scully. Du siehst doch, dass der Captain und ich uns angeregt unterhalten.«
»Woher wissen Sie, dass ich Captain war?«
Idiot! Weil Jago es ihm gesagt hat!
Lee setzte sich seitlich auf den Tisch und rollte die Zigarre zwischen Zeigefinger und Daumen. »Ach, es gibt da gewisse höher gestellte Freunde. Man hört so manches. Ich weiß eine Menge über Sie. Stellt sich die Frage, was Sie über mich wissen.«
»Alles!« Hawkwood merkte sofort, dass er nicht überzeugend klang.
»Oh, das bezweifle ich«, meinte Lee trocken und zupfte einen Tabakkrümel von seiner Unterlippe. »Sehr sogar.«
»Wir wissen von dem Tauchboot«, sagte Hawkwood und fragte sich sofort, ob dieses Eingeständnis klug gewesen war.
»Es hätte mich auch mächtig überrascht, wenn ihr das nicht wüsstet«, sagte Lee.
Hawkwood fand die Unbekümmertheit des Amerikaners äußerst beunruhigend. Irgendwie hatte er das Gefühl, von Lee an der Nase herumgeführt zu werden. Warum trat Lee so verdammt großspurig auf?
»Es bringt Ihnen nichts, wenn Sie mich umbringen lassen«, sagte Hawkwood. »Ich bin nicht der Einzige, der in diesem Fall ermittelt.«
»Oh, das glaube ich Ihnen«, sagte Lee jovial. »Wirklich. Aber bis mir jemand auf die Spur kommt, ist es zu spät.«
»Kann ich ihn jetzt endlich fertig machen?«, drängte Scully.
»Geduld, Scully. Du kriegst schon noch deine Chance. Wie Sie sehen, Captain, kann Scully keine Officer ausstehen. Nicht wahr, Scully?«
»Das sind alles Scheißkerle, jeder Einzelne. Egal, ob tot oder lebendig.«
»Habe ich’s Ihnen nicht gesagt, Captain?«
»Dieser Wahnsinnige gehört ins Irrenhaus, nach Bedlam«, sagte Hawkwood. »Wie kommt es, dass er für Sie arbeitet?«
»Was hat er gesagt?«, wollte Scully wissen.
»Dass er dich nicht mag«, sagte Lee. »Für ihn gehörst du ins Irrenhaus.«
»Na, so was«, sagte Scully und verpasste Hawkwood einen Schlag ans Kinn. Ein paar Sekunden wurde es dunkel um den Runner. Hoffentlich hat er mir nicht den Kiefer gebrochen, dachte er, als er aus dem Nebel wieder auftauchte. Er fuhr sich prüfend mit der Zunge über seine Zähne. Ein paar hatten sich gelockert.
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