Sie nahm ihm das Glas aus der Hand, nippte daran, zuckte mit den Schultern und erzählte: »Lord Mandrake gehört seit Jahren zu den Freunden der Familie meines Onkels. Die beiden sind außerdem Geschäftspartner. Viele Weine, die Lord Mandrake importiert, stammen von den Weingütern meines Onkels in Portugal. Als ich meinem Onkel mitteilte, dass ich in England bleiben wolle, bat er Lord Mandrake, sich um mich zu kümmern. Er war immer ein treuer und zuverlässiger Freund. Ich darf sogar in seinem Haus wohnen, solange ich in London bin. Er ist einer der liebenswürdigsten Menschen, die ich kenne, und hat den Comte d’Artois auf großzügige Weise unterstützt.«
Was er sich bestimmt leisten kann, folgerte Hawkwood, als er an die überaus luxuriöse Festivität dachte.
»Und was weißt du über seine Freunde?«
»Nur, dass er viele hat. Ich glaube, er diniert hin und wieder sogar mit dem Premierminister.« Dann sah sie ihn fragend an. »Matthew, du stellst Fragen, als würdest du ihn verdächtigen. Was soll das alles?«
Mit einem etwas gezwungenen Grinsen sagte Hawkwood: »Das bringt mein Beruf zwangsläufig mit sich. Weil ich Polizist bin, verdächtige ich jeden.«
»Sogar mich?«
Trotz ihres betörenden Lächelns erschreckte ihn ihre Frage.
»Nein«, entgegnete er lächelnd. »Oder sollte ich?«
Catherine musterte ihn aufmerksam. »Jeder hat etwas zu verbergen, Matthew«, sagte sie, legte die Hand an seinen Hals und zeichnete mit dem Finger die Muttermale nach. »Ist das nicht so?«
Der Lakai starrte Hawkwood verwirrt und misstrauisch an. Hawkwood glaubte, der Diener habe ihn nicht verstanden. Deshalb wiederholte er: »Special Constable Hawkwood möchte Lord Mandrake sprechen.« Er hielt ihm seinen Ausweis unter die Nase. Auch wenn der Diener nicht lesen konnte, würde ihm das offizielle Siegel auf dem Dokument wohl Zutritt zum Haus verschaffen.
Da seine Nacht mit der liebeshungrigen Catherine keine Erkenntnisse gebracht hatte, außer der Tatsache, dass Lord Mandrake flüchtige, wenn nicht sogar enge Beziehungen zu den meisten Regierungsmitgliedern pflegte, hatte Hawkwood beschlossen, den direkten Weg einzuschlagen und dem Haus Mandrake einen Besuch abzustatten.
Nachdem der Lakai seinen Ausweis kritisch geprüft hatte, sagte er: »Seine Lordschaft ist nicht zu Hause.«
»Wann wird er zurückerwartet?«
Der Diener zögerte, durch Hawkwoods scharfen Ton noch vorsichtiger geworden.
»Also?«, sagte Hawkwood und steckte den Ausweis wieder in seinen Schlagstock.
»Ich bin mir nicht sicher. Seine Lordschaft ist fort, verstehen Sie?«
»Ja.« Hawkwood war zunehmend verärgert. »Das hast du mir ja eben gesagt. Wo ist er?«
»Auf seinem Landsitz in Northwich. Ich glaube, der Comte wollte einen Ausflug aufs Land machen.«
»Der Comte?«
»Der Hausgast Seiner Lordschaft, der Comte de Rochefort.«
Der in Montaignes Lektüre vertiefte Franzose, der am Abend des Balls ein so ungewöhnliches Interesse an Hawkwood gezeigt hatte. Wie dem Comte wohl der Norden gefallen wird?, fragte sich Hawkwood. Northwich liegt in Cheshire, weit weg von den modischen Salons und Verlockungen der Hauptstadt. Natürlich werden dort Fuchsjagden veranstaltet, doch wie ich den Comte einschätze, ist er ein Mann, der körperlich anstrengende Aktivitäten nicht sonderlich liebt und eher dem Würfel- und Kartenspiel zugeneigt ist.
Als der Diener die Haustür schließen wollte, stellte Hawkwood seinen Fuß dazwischen und rief: »Nicht so hastig, Freundchen!« Dann schob er den Mann beiseite, trat in die weite Eingangshalle und bemerkte sofort, wie still es in dem herrschaftlichen Haus war. Welch ein Kontrast zu meinem ersten Besuch hier, dachte Hawkwood. An jenem Abend hatten alle Räume im Lichterglanz gestrahlt und waren mit Musik, Stimmengewirr und Lachen erfüllt gewesen.
»Sir, ich protestiere!« Weil Hawkwood jedoch nicht reagierte, trottete der Diener zwangsläufig durch das Erdgeschoss hinter ihm her. Ihre Tritte hallten in den hohen Korridoren wider. Kein Zweifel, dachte Hawkwood, der Vogel ist ausgeflogen. Als er Stimmen hörte, folgte er dem Klang, traf aber nur auf Dienstboten, die letzte Arbeiten verrichteten, Kamine auskehrten und Schutzbezüge über Möbel legten.
»Wann sind die Herrschaften abgereist?«
Lord Mandrake sei zusammen mit seiner Frau, seinem Gast und einem Berg Gepäck am frühen Morgen aufgebrochen. Schon kurz nach Sonnenaufgang, wie sich herausstellte.
Sei es üblich, fragte Hawkwood den Diener scharf, dass Lord Mandrake in dieser Jahreszeit zu seinem Landsitz im Norden reise? Und wenn ja, gehöre es auch zu den Gewohnheiten Seiner Lordschaft, im Morgengrauen aufzubrechen?
Die Antworten des Dieners waren wenig hilfreich. Lord Mandrake besuche seine Ländereien, wann immer er Lust dazu habe. Und was die frühe Abreise betreffe, so sei es eine weite Reise, und je früher die Familie aufbreche, umso früher erreiche sie ihr Ziel.
Nur mit Mühe unterdrückte Hawkwood seinen Ärger über die mangelhaften Auskünfte. Dann kam ihm eine Idee.
»Sag mal, hatte Seine Lordschaft je Probleme mit seinen Uhren?«
Der Diener blinzelte verständnislos. »Uhren?«
»Ja, mit seinen Uhren, verdammt noch mal! Gab es in seinem Haushalt Uhren, die repariert werden mussten?«
»Ähm, nein, Sir. Nicht, dass ich wüsste.« Es war offensichtlich, dass der Diener allmählich anfing, an Hawkwoods Verstand zu zweifeln.
Na ja, es ist eben auch nur ein Schuss ins Blaue gewesen, dachte Hawkwood und marschierte zur Haustür zurück. Der Diener schloss mit sichtlicher Erleichterung die Tür hinter ihm. Hawkwood blieb auf der Treppe stehen und überlegte. Es bestand kaum Zweifel daran, dass Lord Mandrake London in unangemessener Eile verlassen hatte.
Was hatte ihn zu dieser überstürzten Abreise veranlasst?
Ein Zufall, der für seine Ermittlungen nicht relevant war? Oder steckte eine Verschwörung dahinter?
»Denn du bist von Erde und zu Erde sollst du werden. Ein Mensch ist in seinem Leben wie Gras, er blüht wie eine Blume auf dem Felde, wenn der Wind darüber geht, ist sie nimmer
da … Die Gnade des Herrn aber währt von Ewigkeit zu Ewigkeit …«
Mit flacher, teilnahmsloser Stimme leierte der Pfarrer die Predigt herunter. Hawkwood hatte das Gefühl, die Trauerfeier für seinen ermordeten Kollegen sei eine lästige Pflicht, und wünschte sich spontan, dass Reverend Fludde trotz seiner etwas schrillen und schneidenden Rhetorik die Predigt gehalten hätte. Er starrte auf den Sarg in dem offenen Grab hinunter und fragte sich, ob zu seinem Begräbnis auch nur so wenige Trauernde kommen würden. Wahrscheinlich, dachte er wehmütig.
Jetzt, am Spätnachmittag, drangen nur vereinzelte Sonnenstrahlen durch das dichte Geäst in den Winkel des kleinen Friedhofs. Das Gesicht von Trauer gezeichnet, stützte sich James Read neben Hawkwood auf seinen Spazierstock. Außer Hawkwood und dem Obersten Richter waren nur drei weitere Trauergäste anwesend: der Sekretär Ezra Twigg und neben ihm ein kräftiger, untersetzter Mann, Runner Jeremiah Lightfoot, der noch immer mit dem Begleitschutz für den Goldtransport der Bank von England beauftragt war. Ein paar Schritte entfernt, im Schatten eines Apfelbaums, stand eine zierliche Frau mit schwarzem Kopftuch. Sie schluchzte leise in ihr Taschentuch. Hawkwood wusste, dass der Mann von Warlocks Schwester bei Almeida gefallen war. Ihr Bruder Henry war also ihr letzter noch lebender Verwandter gewesen. Am Zaun warteten geduldig zwei Pfeife rauchende Totengräber auf ein Zeichen des Pfarrers, um mit ihrer Arbeit beginnen zu können.
Die Kosten für die Beerdigung hatte sozusagen als letzte Ehre für den verdienten Runner das Amt übernommen. So hatte Henry Warlock im selben Grab wie seine Frau und sein Sohn bestattet werden können, sonst wäre er in einem Armengrab verscharrt worden. Hawkwood wusste, dass James Read eine derartige Demütigung für einen seiner Männer nie zugelassen hätte. Der Oberste Richter kümmerte sich um seine Untergebenen.
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