Da niemand eine Grabrede hielt, faltete der Pfarrer die Hände und nickte den beiden Totengräbern zu.
Während James Read, sein Sekretär und Runner Lightfoot Warlocks Schwester ihr Beileid aussprachen, sah Hawkwood zu, wie die Totengräber Erde auf den Sarg warfen. Der Oberste Richter hatte dafür gesorgt, dass ein tiefes Loch gegraben wurde. Leichenräuber versorgten die medizinische Fakultät zwar hauptsächlich im Winter mit Toten, aber auch zu anderen Jahreszeiten waren Gräber nicht vor Leichendieben sicher. Dann stand Hawkwood vor dem Grabhügel. Auf dem schlichten Grabstein waren die Namen von Warlocks Frau und Kind eingemeißelt. Sein Name fehlte noch.
Was für ein karger Lohn, wenn man fünfzehn Jahre Dienst getan hat, dachte Hawkwood bedrückt.
Er spürte auf einmal, dass er beobachtet wurde. Er sah sich um und entdeckte Jenny, das Mädchen, das ihn zu Jago geführt hatte, hinter einem der Grabsteine. Als er sie zu sich winkte, schlich sich Jenny vorsichtig heran.
»Ich soll dir das geben …«, sagte sie und drückte ihm einen Zettel in die Hand.
Hawkwood faltete ihn auseinander und glättete ihn. Die Nachricht war kurz: Rats Nest. Zehn Uhr. J.
Die mit Messing beschlagene, zerschrammte alte Seekiste trug die Spuren vieler Kriege. Früher hatte sie einem Major gehört, der bei dem Rückzug nach Coruña gefallen war. Hawkwood hatte sie ersteigert, denn der Erlös der Versteigerung war der mittellosen Witwe des Gefallenen zugute gekommen.
Die Seekiste war mit Kriegserinnerungen voll gepackt.
Hawkwood klappte den Deckel auf. Ganz oben lag ein gekrümmtes, einschneidiges Schwert, das in einer Scheide steckte, eine effiziente Waffe. Die scharfe Klinge war dazu geeignet, Knochen und Muskeln zu durchtrennen. Hawkwood nahm es sehr behutsam heraus und legte es zur Seite.
Darunter lag ein sorgfältig gefalteter dunkelgrüner Waffenrock mit schwarzen Tressen, der oft geflickt worden war.
Neben dem Waffenrock befand sich ein ebenfalls gefaltetes Paar grauer Kavallerie-Kniehosen, das an den Innenseiten mit Leder verstärkt war. Auch sie zeigten deutliche Spuren der Abnutzung. Die Farbe der einst karmesinroten Schärpe war verblasst und der Stoff zerschlissen.
Der schwere und warme Offiziersmantel darunter hatte Hawkwood während der strengen Winter in Spanien vor Wind und Wetter geschützt. Die Nächte waren manchmal so kalt gewesen, dass der Urin eines Mannes gefroren war, noch ehe er den Boden berührte.
Jetzt nahm Hawkwood ein langes, graues, an beiden Enden verschnürtes Wachstuch heraus. Er zögerte kurz, ehe er die Bänder aufknotete.
Der Gewehrlauf glänzte hell im Licht der Kerze. Auf der Messingplatte am polierten Schaft war eingraviert: Ezekiel Baker & Son, Waffenschmied Seiner Majestät, London.
Viele Erinnerungen wurden in Hawkwood wach, als er das Gewehr wieder einwickelte und auf sein Bett legte. Mit diesem Gewehr hatte er den spanischen General und Gouverneur von Montevideo erschossen. Es hatte ihn nach Portugal und Spanien begleitet und ihm stets zuverlässig gedient. Wie einen kostbaren Schatz hatte er es gehütet und gepflegt und es sogar nachts an seiner Seite gehabt. Es war ihm näher gestanden als irgendeine Frau.
Die Seekiste enthielt noch mehr Kleidungsstücke und Ausrüstungsgegenstände: Hemden, Hüte, Gürtel und Stiefel; ein Etui mit Duellpistolen und Formen für das Gießen von Kugeln; Pulverbeutel, ein Pulverhorn, ein Bajonett, ein Fernrohr aus Messing – alles Zeugnisse eines langen Soldatenlebens.
Hawkwood nahm das Gewünschte heraus und legte die übrigen Dinge – einschließlich Gewehr und Schwert – wieder in seine Seekiste zurück. Dann zog er sich an.
Das Rats Nest war eine Spelunke in Shadwell, die Hawkwood keinesfalls als Treffpunkt – nicht einmal tagsüber, geschweige denn nachts – gewählt hätte. Doch Jago muss Gründe für seine Wahl gehabt haben, dachte er. Um nicht wie im Noah’s Ark durch seine Kleidung aufzufallen, hatte Hawkwood beschlossen, sich zur Umgebung passend auszustaffieren.
Der Mann, den er dann im Spiegel sah, hatte wenig Ähnlichkeit mit einem Bow Street Runner. Statt Hemd und Halstuch, des maßgeschneiderten Rocks, der eleganten Weste und den dunklen Kniehosen trug Hawkwood jetzt ein zerschlissenes braunes Hemd, eine schäbige Wolljacke, eine ausgefranste, am Hosenboden glänzende Hose mit scharlachrotem Saum und ein Paar abgetretene Stiefel. Hawkwood hatte diese Stiefel einem toten französischen Offizier ausgezogen, denn französischen Stiefeln wurde gute Qualität nachgesagt.
Dann ging er vor dem Kaminrost in die Hocke und rieb Asche auf seine Kleidung. Er löste seine Haarschleife im Nacken und rieb ebenfalls Asche in sein langes Haar. Er trat vor den Spiegel und betrachtete das Ergebnis. Niemand würde ihn jetzt für einen Gesetzeshüter halten. Eher für einen Gelegenheitsarbeiter oder einen heruntergekommenen Veteran.
Zufrieden mit seiner Verkleidung steckte Hawkwood noch seinen Schlagstock in den Gürtel und verließ das Zimmer. Über die Hintertreppe gelangte er in die schmale Passage hinter dem Wirtshaus und verschwand ungesehen in der Nacht.
Hawkwood schlich äußerst vorsichtig durch die immer enger werdenden Gassen. Shadwell lag am östlichen Ende des Ratcliffe Highway. Weder Lampen noch Fackeln leiteten ihn durch das Straßengewirr. Er kam sich völlig verloren vor. Kein ehrlicher Mann wagte sich nachts in dieses Viertel.
Als Hawkwood das Klirren zersplitternden Glases hörte, blieb er abrupt stehen und verschmolz mit den Schatten der Nacht. Er drehte das Gesicht halb zur Wand und lauschte. In einiger Entfernung prügelten sich zwei Betrunkene. Der Eine holte mit einer Flasche aus und schlug zu. Der Getroffene sackte in sich zusammen, und als sich der Mann am Boden krümmte, trat ihn der andere Raufbold mit der Stiefelspitze brutal gegen den Kopf. Dann durchwühlte er hastig die Taschen seines Opfers und torkelte davon, den Flaschenhals noch in der Hand.
Hawkwood ging an dem Mann, der jetzt in der Gosse lag, vorbei, ohne sich um ihn zu kümmern. Sobald er verschwunden war, würden Leichenfledderer wie Geier über den Leblosen herfallen.
Die verwahrlosten, aneinander gebauten Holz- und Steinhäuser waren Brutstätten für alle möglichen Krankheiten. Erst vor kurzem hatte sich hier eine Typhusepidemie ausgebreitet, und es war nur eine Frage der Zeit, bis die Infektionskrankheit aufs Neue ausbrach und noch mehr Menschenleben forderte.
Hawkwood war diese Gegend zwar nicht fremd, aber er hatte Mühe, sich im Labyrinth dieses Elendsviertels zurechtzufinden. Schließlich bog er in eine schmale Gasse ein und ging zum Fluss hinunter.
Am Ufer der Themse angekommen, entdeckte er am Ende des Kais sofort das ausgediente und abgetakelte Schiff. Ein Wald aus Masten reckte sich dem Vollmond entgegen, der wie eine leuchtende, runde Scheibe vor einem dunklen Samtvorhang hing. Über dem Wasser lag ein dünner Nebelschleier, schaurig wie der Atem eines Drachens. In der gespenstigen Stille klang jedes Geräusch unnatürlich laut: das Scheuern des Schiffsrumpfs an der Kaimauer; das Knirschen einer Ankerkette, wenn die Flut am Schiff zerrte; das Klatschen der Segel gegen die Masten. Vom anderen Themseufer hallte der tiefe Ton einer Schiffsglocke herüber.
Es hieß, das abgetakelte Schiff habe vor Jahren für die Ostindische Gesellschaft Elfenbein und Musselin transportiert und sei später wegen einer zu geringen Ladekapazität ausrangiert worden. Doch manche Leute waren der Meinung, das Frachtschiff habe Sklaven transportiert.
Jedenfalls war das Wrack früher einmal ein schönes Schiff gewesen, das stolz Gischt und Wellen getrotzt und seine Segel in einen azurblauen Himmel gereckt hatte. Jetzt lag es im Schlamm der Themse und faulte vor sich hin.
Niemand konnte sich an den Namen des einst stolzen Seglers erinnern. Die Buchstaben an dem geschwungenen Heck waren längst verblasst. Das Wrack diente jetzt als Unterschlupf für allerlei Gesindel und wurde nur noch Rats Nest genannt.
Читать дальше