Wieder schüttelte Davey den Kopf. »Tut mir Leid, Mr. ’Awkwood. Wir haben ihn nur gefunden. Ned hat ihn entdeckt«, sagte er und deutete auf seinen Freund.
»Hast du sonst noch jemandem von der Leiche erzählt?«
»Nöö. Wir machen doch nur mit Ihnen Geschäfte.«
Hawkwood runzelte die Stirn. »Woher hast du gewusst, wo du mich finden kannst?«
»Hab’s nicht gewusst«, beteuerte Davey und zuckte mit den Schultern. »Ich hab Dandy zum Black Lion und Teaser in die Bow Street geschickt, weil ich mir dachte, früher oder später werden Sie schon auftauchen.«
Eine logische Schlussfolgerung, dachte Hawkwood. Dandy und Teaser gehören wohl zu Daveys Bande. Er fischte eine Münze aus seiner Rocktasche und gab sie dem Jungen. »Du hast das Richtige getan, Davey. Dafür bin ich dir dankbar.«
Während Davey mit den Zähnen die Echtheit der Münze prüfte, warf Hawkwood einen letzten Blick auf den toten Runner. Ich muss zwar dringend mit Jago Kontakt aufnehmen, dachte er, aber dies hier hat jetzt Vorrang. Der Exsergeant muss noch eine Weile auf meinen Besuch warten.
Der Oberste Richter sah den stämmigen Mann, der vor ihm stand, erwartungsvoll an. »Nun?«
In einer pathetischen Geste spreizte der Angesprochene die Hände und verkündete: »Sir, die Bestimmung des genauen Todeszeitpunkts kann bisher unter dem Gesichtspunkt exakter wissenschaftlicher Kriterien nicht vorgenommen werden.«
James Read stieß einen verzweifelten Seufzer aus. »Schon gut, Doktor. Dann möchte ich Ihre gelehrte Meinung dazu hören …«
»Ein halber Tag, vielleicht. Höchstens vierundzwanzig Stunden«, antwortete der kräftige Mann, zog ein seidenes Taschentuch aus seinem Ärmel und wischte sich damit über die Stirn.
Der Oberste Richter presste die Lippen zu einem schmalen Strich zusammen, ehe er fragte: »Und die Todesursache?«
Das Taschentuch verschwand wieder im Ärmel. »Ah, daran besteht kein Zweifel. Fraktur des Craniums. Der Okzipitalknochen …«
James Read wedelte ungeduldig mit der Hand. »In einer mir verständlichen Ausdrucksweise, bitte, Dr. McGregor.«
»Das heißt«, mischte sich Hawkwood ein, »der arme Kerl wurde erschlagen.«
Dr. McGregor zuckte zusammen. Der beleibte Arzt, der vom Coroner mit der Untersuchung des toten Runners beauftragt worden war, nahm seine eigene Person derart wichtig und war es deshalb nicht gewohnt, bei seinen Ausführungen weder vom Obersten Richter noch von dessen Untergebenen unterbrochen zu werden. Ein Netz roter Äderchen auf Nase und Wangen deutete darauf hin, dass sein Dünkel wahrscheinlich nur von seiner Vorliebe für Portwein übertroffen wurde.
»Präzise ausgedrückt«, wies er Hawkwood zurecht und starrte ihn böse an, »hat meine Untersuchung ergeben, dass der Schädel durchbohrt und nicht durch einen Schlag zertrümmert wurde.«
»Jedenfalls ist er daran gestorben«, konstatierte Hawkwood, der keinen Sinn für Spitzfindigkeiten hatte.
»Nun, ja«, bestätigte McGregor und rümpfte verächtlich die Nase, ehe er hinzufügte: »Letztendlich tat er das.«
Der Oberste Richter hob abrupt den Kopf. »Was meinen Sie damit?«
Der Arzt richtete sich zu voller Größe auf. »Der Zustand der Leiche und der Kleidung lässt keinen Zweifel daran, dass der Mann längere Zeit im Wasser gelegen hat. Eine Untersuchung der Lungen hat jedoch ergeben, dass er nicht ertrunken ist, sondern, wie ich bereits erklärt habe, durch einen Schlag auf den Kopf getötet wurde. Und die Tatsache, dass die Leiche oberhalb der Hochwassermarkierung gefunden wurde, verleiht meiner persönlichen Theorie größte Glaubwürdigkeit.«
»Und wie lautet diese Theorie?«, erkundigte sich James Read stirnrunzelnd.
»Ich glaube, der Doktor will uns sagen«, mischte sich Hawkwood wieder ein, »dass der Schlag wahrscheinlich nicht sofort tödlich war. Mit anderen Worten, nach dem Schlag auf den Kopf ist Warlock in den Fluss gefallen, oder er wurde hineingeworfen. Die Anstrengung, wieder ans Ufer zu gelangen, hat ihn dann umgebracht.«
»Sind Sie zu derselben Schlussfolgerung gekommen?«, fragte James Read den Arzt.
McGregor, sichtlich verärgert, weil Hawkwood ihm die Pointe gestohlen hatte, nickte. »Ja.«
Dann herrschte Schweigen, bis Hawkwood schließlich fragte: »Können Sie uns zur Tatwaffe Auskunft geben?«
Der Arzt, noch immer über Hawkwoods Anwesenheit und dessen mangelndes Taktgefühl gekränkt, atmete tief ein, ehe er dozierte: »Der Schlag wurde mit exzessiver Wucht ausgeführt. Die Tatwaffe muss spitz und schwer gewesen sein. Vielleicht war es ein Pickel oder ein Meißel gewesen. Mehr kann ich dazu nicht sagen.«
»Herrgott noch mal!«, platzte Hawkwood heraus. »Gibt es überhaupt irgendetwas, dessen Sie sich sicher sind? Außer Ihrem verdammten Honorar!«
McGregors Kopf zuckte zurück, als wäre er geohrfeigt worden. »Wie können Sie es wagen, Sir! Ich …«
»Jetzt reicht’s!«, explodierte der Oberste Richter. Seine Stimme klang wie ein Peitschenknall.
Der Arzt sah aus, als wollte er gleich wieder lospoltern, doch ein Blick in James Reads Gesicht hielt ihn davon ab. Hawkwood merkte, dass er die Hände zu Fäusten geballt hatte.
James Read erhob sich. »Ich danke Ihnen, Doktor. Wie immer waren Sie uns eine große Hilfe. Mein Sekretär wird Sie hinausbegleiten.«
Wie auf ein Stichwort hin wurde die Tür geöffnet, und Ezra Twigg tauchte im Rahmen auf. »Hier entlang, Herr Doktor, bitte«, sagte er höflich.
Der Oberste Richter wartete, bis die Tür wieder geschlossen war. Dann fixierte er Hawkwood mit einem strengen Blick und wies ihn zurecht: »Das war unnötig.«
»Er ist ein aufgeblasener Dummkopf.«
»Aufgeblasen mag er wohl sein. Und er hat eine beneidenswerte Art, jeden auf die Palme zu bringen. Aber ein Dummkopf? Nein, Dr. McGregor ist ein ausgezeichneter Arzt. Ich darf Sie daran erinnern, Hawkwood, dass wir wohl mehr auf seine Kenntnisse angewiesen sind als er auf unsere.«
»Das heißt noch lange nicht, dass ich ihn mögen muss«, sagte Hawkwood.
»Stimmt«, bestätigte James Read müde. »Obwohl ich Ihre Gefühle wegen des gewaltsamen Todes Ihres Kollegen achte, wäre ich Ihnen dankbar, wenn Sie es unterlassen würden, den Arzt zu beleidigen. Vor allem in meiner Gegenwart.«
Das warnende Glitzern in den Augen des Obersten Richters war so eindeutig, dass Hawkwood einlenkte. »Ja, Sir.«
James Read nickte zufrieden. »Kommen wir zur Sache. Haben Sie sich Gedanken über die Ursache von Warlocks Mord gemacht?«
»Meiner Meinung nach war er entweder Opfer eines Raubüberfalls oder eines Racheakts. Ein anderes Motiv halte ich nicht für wahrscheinlich«, antwortete Hawkwood.
»Die Gegend ist als Schlupfwinkel für Straßenräuber bekannt«, sagte der Richter. »Allerdings …«
Hawkwood nickte. »Ich weiß. Je mehr ich mich damit befasse, umso unwahrscheinlicher halte ich einen Raubüberfall. Warlock war ein zu erfahrener Polizist, um sich von einem Taschendieb überrumpeln zu lassen. Und dass seine Taschen leer waren, hat nichts zu bedeuten. Hätte er noch eine Stunde länger dagelegen, wäre nichts mehr von seiner Kleidung übrig geblieben. Nur wenige lassen sich die Chance entgehen, umsonst zu einem Rock und einem Paar Stiefel zu kommen. Nein, ich schätze, es war ein Racheakt. Warlock war ein guter Runner und hat viele Verbrecher festgenommen. Dabei hat er sich eine Menge Feinde gemacht. Viele mögen ihm den Tod gewünscht haben.«
James Read wirkte niedergeschlagen und fügte nachdenklich hinzu: »Falls es ein Racheakt war, kann es lange dauern, bis wir den Mörder fassen. Als würden wir eine Stecknadel in einem Heuhaufen suchen.«
»Das kommt auf die Größe der Nadel an«, sagte Hawkwood. »Am besten sehen wir uns zuerst die Fälle an, bei denen Warlock zuletzt ermittelt hat.«
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