Wieder kehrten seine Gedanken zu den Stunden zurück, nachdem sie ihr Verlangen gestillt hatten. Catherine de Varesne hatte mit gekreuzten Beinen, einen seidenen Morgenrock über den Schultern, auf dem Bett gesessen und ihm ihre Lebensgeschichte erzählt. »Ich war sechs, als mein Vater unter der Guillotine starb.«
Der Marquis de Varesne hatte geahnt, welches Schicksal ihn erwartete, und seiner Frau und seiner Tochter die Flucht aus Frankreich ermöglicht. Der Marquis war zunächst in der Absicht zurückgeblieben, keinen Verdacht zu wecken, und wollte später das Land verlassen. Das Komitee für Öffentliche Sicherheit hatte seinen Plan jedoch vereitelt und den Marquis verhaften und hinrichten lassen.
»Wir wurden über die Pyrenäen nach Spanien und dann nach Portugal zur Familie meiner Mutter gebracht«, hatte Catherine, die Fäuste geballt und mit Tränen in den Augen, erzählt. »Meine Mutter hat den Tod meines Vaters nie überwunden und ist ein Jahr später gestorben. Mir wurde gesagt, sie sei an gebrochenem Herzen gestorben. Was ich mir gut vorstellen kann, denn sie liebte meinen Vater über alles. Er war ein gütiger, sanfter Mann, der sein Land liebte. Ich bin zusammen mit meinen Cousins bei meiner Tante aufgewachsen. Eine englische Gouvernante hat sich um uns gekümmert, so habe ich Englisch gelernt. Ich hatte eine glückliche Kindheit«, hatte Catherine hinzugefügt, ehe die Erinnerung wie ein Schatten der Trauer über ihr Gesicht glitt. »Doch nicht einmal dort waren wir in Sicherheit.«
Weil Bonaparte auch die Pyrenäenhalbinsel besetzte, war die Familie wieder auseinander gerissen worden. Hawkwood erinnerte sich, dass beim ersten Donner französischer Kanonen das portugiesische Königspaar mit seiner aristokratischen Entourage nach Brasilien geflohen war. Dies hatte eine Reihe von Ereignissen ausgelöst, die schließlich zu Englands Beteiligung am Krieg in Spanien führten.
Trotzdem sei Catherine in England geblieben und lebe nun in ständiger Lebensgefahr. Warum?
Mit einem wehmütigen Seufzer hatte sie ihm erklärt: »Hier in England bin ich in der Nähe Frankreichs und bei Freunden, die meine Gefühle teilen und nicht ruhen werden, bis Napoleon besiegt ist und wir wieder in unser Heimatland zurückkehren können.«
Ihr Blick war zu dem Stilett auf dem Nachttisch gewandert. Ihr Vater habe es ihr vor der Flucht aus Frankreich gegeben und sie ermahnt, es ständig bei sich zu tragen. Tagsüber verborgen unter ihrem Kleid und nachts unter ihrem Kopfkissen. Denn die Gegner Napoleons seien nirgends in Sicherheit, und der Ärmelkanal biete keinen Schutz vor den Geheimagenten des Kaisers, deren einzige Aufgabe es sei, die Dynastie der Bourbonen und deren Anhänger zu ermorden.
»Meinen Vater haben sie getötet«, hatte Catherine Hawkwood erzählt. »Mich töten sie nicht!«
Das Schlagen der Wanduhr riss Hawkwood aus seinen Träumen und erinnerte ihn daran, dass seit seinem Treffen mit Jago inzwischen anderthalb Tage vergangen waren. Er hatte gehofft, von dem Exsergeanten irgendeinen Hinweis zu bekommen, der zur Identifizierung der Straßenräuber führen könnte. Doch bisher hatte sich Nathaniel nicht gemeldet. Aus Erfahrung wusste Hawkwood, dass Richter Read kein sehr geduldiger Mann war und bald einen Bericht von ihm über den Stand der Ermittlungen erwartete. Und es war nicht ratsam, den Obersten Richter zu enttäuschen.
Fairerweise muss ich jedoch einräumen, dachte Hawkwood, dass es wegen der teilweise nicht unangenehmen Umstände ziemlich schwierig für Jago gewesen sein muss, mich ausfindig zu machen. Jetzt muss ich Kontakt mit ihm aufnehmen. Zwar habe ich keine Lust, mich dort im Elendsviertel erneut Gefahren auszusetzen, aber mir bleibt nichts anderes übrig. Deshalb muss ich vorher noch einmal ein Wörtchen mit Billy Mipps, dem Blinden, reden.
Er schob seine leere Kaffeetasse beiseite und fragte sich, wann er Catherine de Varesne wiedersehen würde. Dann muss ich gut in Form sein, dachte er und musste lächeln, als er an ihre verlockenden Augen, ihre samtene Haut und ihren verführerischen Körper dachte.
Ein Blick auf die Wanduhr zeigte ihm, wie schnell die Stunden verstrichen waren. Der halbe Tag war schon vorbei. Es wird höchste Zeit, dass ich mit dem Blinden Billy Kontakt aufnehme, dachte er, legte ein paar Münzen für sein spätes Frühstück auf den Tisch und verließ das Gasthaus.
Als er eine Berührung an seinem Ärmel spürte, war sein erster Gedanke: Pech für den Jungen, dass er sich einen Bow Street Runner als Opfer ausgesucht hat. Blitzschnell packte er das schmale Handgelenk.
»Hab ich dich, du Bengel!«
Doch statt eines Protestgeschreis und Unschuldsbeteuerungen hörte er nur ein atemloses: »Lassen Sie mich los, Hawkey! Ich bin’s, Davey!«
Hawkwood blickte hinunter. Ein dreckverschmiertes Gesicht auf einem spindeldürren Körper sah zu ihm hoch. Unter einer schmutzigen Wollmütze schauten rötliche Haarsträhnen hervor.
Hawkwood ließ den Jungen los. »O Mann, Davey! Du solltest dich nicht so an mich ranschleichen … Und nenn mich nicht Hawkey. Wie oft habe ich dir das schon erklärt?«
»Ich habe mich nicht angeschlichen«, sagte der Junge schmollend. »Und hätte ich’s getan, hätten Sie’s nie gemerkt! Niemals nie!« Dann grinste er breit, entblößte seine Zahnlücken und fügte hinzu: » Mr. ’Awkwood.«
Hawkwood ließ sich von diesem entwaffnenden Grinsen anstecken. Er hätte es tatsächlich nicht gemerkt, wenn Davey es darauf angelegt hätte, ihn zu bestehlen. Der kleine Kerl wäre mit der Beute längst auf und davon.
Diebereien waren jedoch nicht Daveys einzige Einkommensquelle.
Wie viele der heimatlosen Kinder watete er bei Ebbe durch den stinkenden schwarzen Schlamm der Themse und sammelte alles Mögliche, das ans Ufer geschwemmt oder von einem Schiff, einem Boot oder einem Lastkahn ins Wasser gefallen war. Dinge, die die Streuner verkaufen konnten. Einzeln oder in Banden trieben sie sich wie Ratten im Dunkeln herum.
Davey hatte aber noch andere Talente. Er sperrte Augen und Ohren auf und war einer von Hawkwoods besten Informanten. Trotz der Bemühungen der Wachmann-Patrouillen und der in Wapping stationierten Fluss-Polizei blühte das Verbrechen an der Themse. Deshalb waren die Behörden auf jede mögliche Hilfe angewiesen.
Davey und seine Kumpane waren gewiss keine Engel, aber im Vergleich zu anderen Kriminellen nur ganz kleine Fische. Hawkwood und seine Kollegen drückten bei belanglosen Diebereien gern die Augen zu, wenn ihnen dadurch die großen Fische ins Netz gingen. Wie Mitglieder organisierter Banden von Dieben und Händlern, die im Auftrag Schiffsladungen stahlen oder Lagerhäuser entlang des Flussufers ausraubten.
»Na, was gibt’s, Davey? Hast du was für mich?«
Der Junge blickte sich vorsichtig um, so als fürchtete er, belauscht zu werden. Von seiner vorherigen Keckheit war nichts übrig geblieben, als er flüsterte: »Wir haben einen Toten gefunden, Mr. ’Awkwood.«
Der erste unbarmherzige Gedanke, der Hawkwood durch den Kopf schoss, war: Na, wenn der Junge heute Morgen nur einen Toten gesichtet hat, dann hat er wohl nicht richtig hingesehen.
Die Straßen der Hauptstadt waren zwar nicht mit Leichen übersät, aber Tote waren überall zu finden. Das Alter, Krankheiten und Gewalttaten forderten unter den Armen und Obdachlosen ihren Preis. In den dunklen Gassen der Elendsviertel war es nicht ungewöhnlich, dass täglich Leichen entdeckt wurden. Deshalb wunderte es Hawkwood, dass der Gassenjunge es für nötig hielt, ihm einen Toten zu melden. Denn er war ja an derartige Anblicke gewöhnt. Er wollte gerade etwas sagen, als ihn der Ausdruck in den Augen des Jungen daran hinderte.
»Aber, Mr. ’Awkwood, das ist kein gewöhnlicher Steifer. Der ist anders. Er ist einer von euch. Er ist ein Runner!«
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