Der Tote lag im Schlamm, den Kopf zur Seite gewandt. Ein Arm war ausgestreckt, als hätte er nach etwas greifen wollen. Der andere lag verdreht unter seinem Körper.
Am Fluss herrschte ein noch widerlicherer Gestank als in manchen Stadtvierteln. Ein Gebräu aus ekelerregenden Gerüchen – Teer, feuchtem Tauwerk, fauligem Brackwasser, vermodernder Vegetation und Kloaken – wetteiferte mit tausend anderen schädlichen, in Augen und Hals brennenden Dünsten aus den angrenzenden Gerbereien, Färbereien und Sägemühlen.
Vorsichtig stieg Hawkwood, den Boden abtastend, die holprige Steintreppe hinunter und fluchte, als seine Stiefel im stinkenden Schlick versanken. Der Junge hingegen lief flink wie eine Krabbe über die glitschigen Stufen. Über ihren Köpfen wölbte sich die Blackfriars Bridge von Ufer zu Ufer und warf einen scharfen Schatten auf Fluss und Böschung.
Zwei Kinder – Mitglieder von Daveys Bande – hockten auf der untersten Stufe und schnellten fluchtbereit hoch, als der Runner auftauchte. Auf den ersten Blick hatte er die beiden für Jungen gehalten, doch dann sah er, dass eins der Kleinen ein etwa neun- oder zehnjähriges Mädchen war. Nachdem Davey den beiden sagte, sie hätten von Hawkwood nichts zu befürchten, hob das Mädchen einen Stein auf und warf ihn in den Morast. Erst als sie zwischen den Würfen anfing hin und her zu hüpfen, begriff Hawkwood, dass die Kleine wohl eine Art Himmel-und-Hölle spielte. Der Junge hingegen setzte sich wieder auf die Treppe, bohrte in der Nase und schmierte die Popel an seine Kniehose. Trotz der dreckverschmierten Gesichter glaubte Hawkwood zwischen den beiden eine Ähnlichkeit zu entdecken. Vielleicht waren sie Geschwister.
Als sich Hawkwood über die von Fliegen umschwirrte Leiche beugte, stieg ihm ein widerwärtig süßlicher Fäulnisgeruch in die Nase. Er schluckte, um seinen aufsteigenden Brechreiz zu unterdrücken.
Es gelang Hawkwood nur mit Daveys Hilfe, den Mann umzudrehen. Beide zerrten und zogen, bis der schwarze Schlamm mit einem schmatzenden Geräusch die Leiche freigab. Aus den verschiedenen Körperöffnungen entwichen furzend Gase. Der säuerliche Geschmack in seiner Kehle ließ Hawkwood würgen. Er wischte Modder und matschige Halme von den Wangen des Mannes. Als er das aufgeblähte Gesicht erkannte, packte ihn das blanke Entsetzen.
Runner Henry Warlock war klein und drahtig, ein stets auf ordentliches Aussehen und gute Manieren bedachter Mann gewesen. Doch unter seiner Schüchternheit hatten sich ein scharfer Verstand und die Zähigkeit eines Terriers auf Verbrecherjagd verborgen. Auch er war, wie die meisten Runner aufgrund ihres Berufs, ein Einzelgänger und ein sehr fähiger und erfahrener Polizist gewesen.
Im Tod bot Runner Warlock keinen schönen Anblick. Sein Körper war aufgedunsen, und seine Haut hatte die fahle Farbe eines Fischbauchs angenommen.
An der scheinbar tiefen Wunde unter dem verfilzten Haar hinter dem linken Ohr erkannte Hawkwood sofort, dass Warlock eines gewaltsamen Todes gestorben war. Er überlegte, womit dieser tödliche Schlag ausgeführt worden war. Vielleicht mit einem Hammer.
»Sieht aus, als hätten sich die Ratten schon über ihn hergemacht«, stellte Davey nüchtern fest und deutete auf die ausgestreckte rechte Hand. Der Junge schien weder den Gestank wahrzunehmen, noch erschütterte ihn der abscheuliche Anblick der aufgeblähten Leiche.
Als Hawkwood das angefressene Fleisch sah, wischte er sich angewidert die Hände an dem Saum seines Rocks ab. »Woher weißt du, dass er ein Runner war, Davey?«, fragte er.
Beinahe mitleidig entgegnete der Junge: »Tun Sie uns bitte einen Gefallen, Mr. ’Awkwood. Wir erkennen euch doch schon von weitem. Und außerdem haben wir den da gekannt, weil er Pen vor ein paar Wochen beim Klauen erwischt hat.«
Davey deutete mit dem Kopf auf das Mädchen, ging dann neben der Leiche in die Hocke und sagte schniefend: »Der war in Ordnung. Nicht wie die anderen Greifer. Er hat sie nur verwarnt und laufen lassen. Sonst hätte man sie wohl aufs Gefängnisschiff geschickt.«
Hawkwood wusste, dass viele seiner Kollegen Warlocks Mitleid für die Straßenkinder für eine Schwäche gehalten hatten, die sie ausnutzten. Normalerweise machten Polizeibeamte kaum oder gar keine Zugeständnisse bei der Festnahme von Verbrechern, ganz gleich, ob es sich dabei um Erwachsene oder Kinder handelte. Warlock hingegen hatte Ausnahmen gemacht. Den Grund für diese Nachsicht – manche nannten sie Torheit – kannten nur wenige, und die, die wie Hawkwood Bescheid wussten, sprachen nicht darüber. Warlocks junge Frau war bei der Geburt seines Sohnes gestorben und der Säugling eine Woche später vom Fieber dahingerafft worden. Dieses tragische Schicksal hatte Warlock wahrscheinlich zu einem Menschen werden lassen, der es nicht übers Herz brachte, ein neunjähriges Mädchen ins Gefängnis zu stecken. Denn eine achtjährige Strafe war für den Diebstahl eines Spitzentaschentuchs durchaus üblich. Auf dem Deck eines Gefangenenschiffs gäbe es kaum Platz für Spiele wie Himmel-und-Hölle, dachte Hawkwood bedrückt.
Wie viele Menschen haben die Leiche hier liegen sehen?, fragte er sich und ließ den Blick übers Ufer schweifen. Auf der Blackfriars Bridge herrschte tagsüber ein reges Kommen und Gehen, und auf dem breiten Strom verkehrten ständig Boote und Schiffe aller Kategorien und Größen. Blackfriars war ein beliebter Liegeplatz für Bumboote, die dort verankerte Schiffe mit Proviant versorgten, und Anlegeplatz für Fähren, die Passagiere vom einen Ufer zum anderen beförderten.
Weil die Leiche teilweise im Schlamm gelegen hat, hätte sie auch tagelang unentdeckt bleiben können, überlegte Hawkwood. Wahrscheinlicher ist allerdings, dass Passanten einfach weggeschaut und den Toten für das Opfer einer Schlägerei von Betrunkenen gehalten und den Gang zu den Behörden gescheut hatten, um Scherereien aus dem Weg zu gehen. Ein Tod, der keine Aufmerksamkeit erregt.
Doch in diesem Fall würde es ein Nachspiel geben. Denn Henry Warlock war Beamter gewesen und brutal ermordet worden.
Hawkwood war dem Tod auf mannigfaltige Weise begegnet. Im Krieg hatte er von Säbeln zerhackte und von Kanonenkugeln zerfetzte Körper gesehen. Und in seiner verhältnismäßig kurzen Laufbahn als Runner hatte er fast täglich mit Mord und Totschlag zu tun. Tote lassen einen Menschen nie unberührt. Bei einem Fremden kann man noch eine gewisse Distanz aufrechterhalten, doch der Tod eines bekannten Menschen ist immer ein Schock. Hawkwood hatte diese Erfahrung bei Gefallenen aus seiner eigenen Kompanie gemacht und erlebte jetzt, beim Anblick des aufgeblähten Leichnams von Henry Warlock, denselben inneren Aufruhr: ein Gefühl persönlichen Verlustes, eine Ohnmacht über die sinnlose Vergeudung eines Lebens und vor allem eine ungeheure Wut.
Obwohl sich sein Körper vor Ekel schüttelte, machte sich Hawkwood daran, die Taschen seines toten Kollegen zu durchsuchen. Er fand nichts: kein Notizbuch, keine Münzen, keine persönlichen Dinge.
Hawkwood nagte nachdenklich an seiner Unterlippe. So unfassbar es ihm auch schien, Runner Warlock war anscheinend trotz seiner Erfahrung im Umgang mit Übeltätern aller Art einem der gewöhnlichsten Verbrechen Londons zum Opfer gefallen. Er war von demselben Abschaum ermordet und ausgeraubt worden, den er zu Lebzeiten gejagt hatte.
Plötzlich kam ihm ein Gedanke. Er betrachtete den Jungen und fragte: »Habt ihr ihn etwa gefleddert, Davey?«
Davey zuckte zusammen und entgegnete dann entrüstet: »Nein, wir haben ihn nicht angerührt, Mr. ’Awkwood. Bestimmt nicht.«
Hawkwood packte den Jungen am Arm. »Sag mir die Wahrheit, Davey. Das ist sehr wichtig.«
Davey schüttelte heftig den Kopf. »Bei Gott, ich schwör’s, Mr. ’Awkwood.«
Hawkwood sah dem Jungen an, dass er die Wahrheit sprach. »Und habt ihr vielleicht etwas gesehen?«
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